Da geht mehr im Angehörigen-Entlastungsgesetz

Porträt Sigrid Arnade (c) ISL e.V.Berlin, 26. Juni 2019. Bei der momentanen Rekordhitze und aufkommenden Urlaubszeit könnte leicht untergehen, dass im Bundesministerium für Arbeit und Soziales derzeit an einem Gesetz gebastelt wird, das eine Reihe von Verbesserungen bringen kann, aber auch Chancen für dringend nötige Reformen verstreichen lässt. Es geht um den Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe - kurz Angehörigen-Entlastungsgesetz. Ein Referentenentwurf der Bundesregierung liegt hierfür bereits vor. Für die Anhörung am 23. Juli im Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) nun ihre Stellungnahme eingereicht und Position bezogen.

"Wir begrüßen die Inhalte des vorliegenden Gesetzentwurfs und bitten dringend darum, bei dieser Gelegenheit die völkerrechtswidrigen Bestimmungen aus dem SGB IX zu eliminieren", so bringt es die Geschäftsführerin der ISL in der Zusammenfassung der Stellungnahme der ISL auf den Punkt.

 

Zu den Kritikpunkten heißt es in der Stellungnahme der ISL:

"Trotz unserer grundsätzlich positiven Beurteilung des Gesetzentwurfs gibt es noch deutlichen Ergänzungsbedarf, der sich insbesondere auf sechs Punkte konzentriert. Das SGB IX enthält derzeit einige Bestimmungen, die mit den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus rechtsverbindlichen Menschenrechtskonventionen nicht vereinbar sind. Die Novellierung des Gesetzes bietet die Chance, auch diese völkerrechtswidrigen Rechtssetzungen zu revidieren. Wir haben die Punkte entsprechend der Dringlichkeit und Bedeutung des Änderungsbedarfs sortiert und beginnen mit dem wichtigsten Anliegen:

  • Streichung des Mehrkostenvorbehalts: Der menschenrechtswidrige, vom UN-Fachausschuss kritisierte und durch vielerlei Gerichtsurteile für nichtig erklärte Mehrkostenvorbehalt im § 104 SGB IX (vormals § 13 SGB XII) ist zu streichen. Dazu ist § 104 Abs. 2 um folgenden Satz zu ergänzen: 'Dabei ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.' Die Bestimmung in Absatz 3 müssen entsprechend angepasst werden.
  • Leistungsausschluss von Ausländer*innen: Auch die in § 100 SGB IX normierten Bestimmungen, die Ausländer*innen abhängig vom Aufenthaltsstatus nur einen eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe gewähren, stehen im Widerspruch zu den Normierungen der UN-BRK: Sie widersprechen Art. 4 UN-BRK, allen Menschen mit Behinderungen den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten in dem jeweiligen Vertragsstaat zuzubilligen. Auch das Benachteiligungsverbot für Behinderte im Grundgesetz beschränkt sich nicht auf Deutsche und Ausländer*innen mit einem bestimmten Aufenthaltstitel. Entsprechend ist § 100 folgendermaßen neu zu fassen: '§ 100 SGB IX Eingliederungshilfe für Ausländer: Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, haben Anspruch auf Leistungen nach diesem Teil, soweit dies im Einzelfall für ihre gesellschaftliche Teilhabe während ihres Aufenthaltes erforderlich ist. Ausländer, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten, haben während ihres Aufenthalts Ansprüche auf alle Leistungen der Eingliederungshilfe nach diesem Teil. Andere Rechtsvorschriften, nach denen Leistungen der Eingliederungshilfe zu erbringen sind, bleiben unberührt. Die bisherigen Absätze 2 und 3 werden gestrichen.'
  • Rücknahme des Zwangspoolens: Mit dem BTHG wurde die zwangsweise gemeinsame Inanspruchnahme von Assistenzleistungen im ambulanten Bereich eingeführt, was den Prinzipien von Selbstbestimmung und den Vorgaben der UN-BRK widerspricht. Im General Comment zum Art. 19 UN-BRK wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die gemeinsame Inanspruchnahme von Assistenzleistungen nur mit Zustimmung der Betroffenen erfolgen darf. Ein entsprechender Zustimmungsvorbehalt ist deshalb in den Bestimmungen (§ 104, Abs. 3) zu verankern. Dieser könnte folgenden Wortlaut haben: 'Entscheidet sich die leistungsberechtigte Person für ein Leben außerhalb besonderer Wohnformen, sind Assistenzleistungen nach § 113 Abs. 2 Nummer 2 nur mit Zustimmung der leistungsberechtigten Person gemeinsam nach § 116 Abs. 2 Nummer 1 zu erbringen.'
  • Entlastung Betroffener: So sehr wir die Entlastung der Angehörigen begrüßen, so wenig können wir verstehen, dass nicht auch finanzielle Erleichterungen für die Betroffenen vorgesehen sind. Schließlich hat der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen von 2015 gefordert, dass behinderte Menschen in der Lage sein müssen, einen vergleichbaren Lebensstandard zu realisieren wie Menschen ohne Behinderungen mit einem vergleichbaren Einkommen. Das ist nicht der Fall solange teils erhebliche Zuzahlungen zu behinderungsbedingten Leistungen von den Betroffenen zu erbringen sind. Besonders verwundert in diesem Zusammenhang der Verweis auf Art. 28 UN-BRK in der Begründung. In diesem Artikel geht es um den angemessenen Lebensstandard der Betroffenen und ihrer Familien und nicht um einen angemessenen Lebensstandard primär der Familien. Eingedenk der noch vorhandenen Vorbehalte in der Bundesregierung gegen den vollkommenen Verzicht auf die Eigenbeteiligung der Betroffenen schlagen wir als Übergangslösung vor, statt des gesamten Einkommens das zu versteuernde Einkommen für die Berechnung des Eigenanteils zugrunde zu legen. So ließen sich vermutlich auch die jetzt zu erwartenden Härten vermeiden, dass gerade Menschen mit einem guten Einkommen und einem hohen Assistenzbedarf künftig mehr zuzahlen müssen als in der Vergangenheit.
  • § 32, EUTB: Zu diesem Paragraphen schlagen wir zwei Ergänzungen vor: - Bei der Auflistung in § 32 Abs. 6 zur Verwendung der Mittel ab 2023 sollte die 'aufsuchende Beratung' ergänzt werden, die in der Realität sowie im Einleitungs- und Begründungstext eine wesentliche Rolle spielt. - Eine vorgesehene Dynamisierung der Ausgaben sollte nicht nur in der Begründung, sondern im Gesetzestext festgeschrieben werden.
  • Budget für Arbeit: Nach unseren Beobachtungen kann das Budget für Arbeit noch keine Durchschlagskraft entwickeln, weil keine Institution dafür verantwortlich ist, entsprechende Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Deshalb schlagen wir vor, den § 61 SGB IX durch eine Bestimmung entsprechend § 61a Abs. 4 zu ergänzen. Die Leistungsträger sind also ausdrücklich dazu zu verpflichten, geeignete Arbeitsmöglichkeiten zu suchen."

Dr. Sigrid Arnade hebt in der Stellungnahme der ISL aber auch eine Reihe von positiven Aspekten des geplanten Gesetzes vor. Sie schreibt: "Ganz überwiegend begrüßen wir die Inhalte des Gesetzentwurfs und möchten insbesondere folgende Aspekte positiv hervorheben:

  • Entlastung der Angehörigen: Dieses ist ein wichtiges Signal, das dem heutigen Familienbild entspricht und den Staat keineswegs überfordert.
  • Grundsicherung im Berufsbildungsbereich: Wir begrüßen auch die vorgesehenen Regelungen, nach denen Menschen im Eingangsverfahren und im Be-rufsbildungsbereich von Werkstätten für behinderte Menschen auch Leistungen der Grundsicherung beziehen können. Hier folgt die hinterher hinkende Rechtssetzung zwar der längst etablierten Rechtsprechung, aber 'besser spät als nie', ist unsere Meinung.
  • Entfristung der EUTB: Wir halten es für einen bedeutsamen Schritt, die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) bereits nach den bislang gesammelten Erfahrungen zu entfristen. Hier ist anscheinend aus Fehlern in der Vergangenheit gelernt worden, denn bei unsicheren Arbeitsbedingungen suchen sich gerade Spitzenkräfte erfahrungsgemäß ein neues Betätigungsfeld, wenn das Signal zur Verlängerung eines zunächst zeitlich befristeten Projekts zu spät kommt. Insofern trägt eine Entfristung der EUTB zum jetzigen Zeitpunkt zur Beruhigung und Planungssicherheit bei den EUTB bei, was die jetzt schon überzeugende Qualität dieses neuen Beratungsangebots nur steigern kann.
  • Budget für Ausbildung: Aus unserer Sicht macht es Sinn, das Budget für Arbeit durch ein Budget für Ausbildung zu ergänzen. Bei der Ausformulierung ist es zudem gelungen, den Konstruktionsfehler des Budgets für Arbeit zu vermeiden: In § 61a Abs. 4 werden die Leistungsträger ausdrücklich dazu angehalten, die Betroffenen bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz zu unterstützen.
  • Arbeitsassistenz: Schließlich begrüßen wir auch die neue Regelung zur Arbeitsassistenz, durch die eine willkürliche Obergrenze, die von den Integrationsämtern definiert wird, vermieden werden soll."

Link zur Stellungnahme der ISL zum Angehörigen-Entlastungsgesetz

Link zum Referentenentwurf der Bundesregierung für das Angehörigen-Entlastungsgesetz