Für Mischa Gohlke sind Grenzen relativ

Mischa Gohlke mit Gitarre im RampenlichtMischa Gohlke ist davon überzeugt, dass Grenzen relativ sind. Als hörbehinderter Musiker und Inklusionsbotschafter hat er erst vor kurzem bei den Inklusionstagen in Berlin im Berliner Congress Center den Inklusionssong für Deutschland vorgestellt. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul interviewte den quirligen und tiefgründigen Gitarristen.

kobinet-nachrichten: "Grenzen sind relativ", ist einer Ihrer Slogans. Was heißt das für Sie als hörgeschädigter Mensch?

Mischa Gohlke: "Grenzen sind relativ" kann man ja auf verschiedensten Ebenen interpretieren und erfahren. Wir Menschen sind zumeist ein Konstrukt unserer jeweiligen psychologischen, emotionalen, sozialen und kulturellen Konditionierungen. Viele Unzugänglichkeiten, Missverständnisse und Konflikte entstehen, wenn wir unsere subjektive Wahrnehmung zur objektiven Realität machen und uns damit identifizieren. Weit verbreitete Glaubenssätze wie
"aufgrund einer Hörschädigung kann man keine Musik machen", "Ich habe kein Talent, um zu singen" oder "Du bist zu alt, um etwas Neues anzufangen", machen deutlich, dass wir Menschen generell dazu neigen, uns konditionierte Denkmuster anzueignen. Es ist essenziell, sich damit auseinanderzusetzen, wie Wahrnehmungen, Bewusstsein und Realitäten überhaupt entstehen. Ziel sollte eine möglichst ergebnisoffene und wertfreie Beziehungsebene – im Sinne das alles zu- und miteinander in Beziehung steht - sein. Dabei können wir Menschen ganz schön begrenzt sein. (Mische Gohlke lacht)

kobinet-nachrichten: Was bedeutet das für Sie persönlich?

Mischa Gohlke: Für mich persönlich werden diese und andere Prozesse bei den verschiedensten Erfahrungen mit meiner Hörschädigung – oder besser formuliert "Höreigenschaft" - konkret. Ohne Hörgeräte bin ich quasi taub. Mit Hörgeräten höre ich ca. 60 Prozent von der Grundlautstärke, wobei Hören nicht gleich differenziertes Verstehen ist. Gerade im Mitten- und Hochtonbereich fehlen bei mir viele Frequenzen. Somit höre ich Sprache und Musik generell als Klangbrei, wobei die Hörwahrnehmung nicht statisch, sondern stets im Wandel ist. Ich erlebe es immer wieder, dass ich in manchen Momenten so gut wie gar nichts verstehe, in anderen Momenten wiederum alles differenziert wahrnehmen kann. Die jeweilige Hörrealität wird also aus dem Hier und Jetzt heraus - bewusst und unbewusst - immer wieder neu und anders kreiert. Unsere Wahrnehmungen und Empfindungen sind multisensorisch und wir erleben Sprache und Musik auf verschiedensten Ebenen zugleich: Auge, Gehör, Emotion, Körpergefühl, Verstand, Intuition, metaphysische Prozesse und viele mehr. Alles bedingt einander und läuft parallel. Die große Aufgabe ist es also, sich immer wieder aufs Neue der möglichst wertfreien und ergebnisoffenen Vielfalt an Möglichkeiten hinzugeben.

kobinet-nachrichten: Als Musiker überwinden Sie selbst einige Grenzen. Welche Erfahrungen machen Sie in der Szene?

Mischa Gohlke: Mit 15, 16 Jahren habe ich den BluesRock Gitarristen Stevie Ray Vaughan gehört, spürte sofort eine tiefe Verbindung zu seiner Musik und musste einfach anfangen, Gitarre zu spielen. Dass ich offiziell von Geburt an Taubheit grenzend hörgeschädigt bin, spielte dabei keine große Rolle. Musik hat in mir einfach Leidenschaft, Begeisterung und Liebe geweckt. Das Gitarre Spielen ist mir auf verschiedensten Ebenen schwer gefallen. Motorik, Rhythmus, Technik, usw. ... ich fand es aber damals spannend, gerade das zu tun, was ich scheinbar am wenigsten kann. Grenzen zu spüren, mit ihnen im Prozess zu sein und daran zu wachsen.

Einer der wohl größten Fehler ist, wenn wir hörgeschädigte Menschen die "normalen" Prozesse beim Musizieren und im Leben ausschließlich auf unsere Hörschädigung projizieren und uns damit identifizieren. Auch Normalhörende können oft zwei Töne nicht voneinander unterscheiden. Es gibt viele Profimusiker, die das Dilemma erfahren, sich auf der Bühne nicht zu hören. Auch Hörgeschädigte können ihr Gehör trainieren und lernen, in verschiedenen Lebenssituationen einen gesunden Umgang zu finden.

kobinet-nachrichten: Ging das so glatt ohne Selbstzweifel ab?

Mischa Gohlke: Ich hatte immer wieder Lebensphasen, in denen ich stark an mir gezweifelt habe und meine Schwierigkeiten beim Musizieren auf meine Hörschädigung zurückgeführt und reduziert habe. Damit verbunden habe ich mich in eine Opfer-Rolle gebracht und dementsprechend die Realitäten kreiert. Letztlich hat mich die Liebe zu der Musik festgehalten und ich konnte an diesen Prozessen wachsen. Wir alle haben unsere Themen und es scheint immer wieder die Frage zu sein, wie wir einen gesunden konstruktiven Umgang mit unseren vermeintlichen Schwächen, Stärken, Frustrationen und Erfolgen finden können. Dabei ist immer wieder eine Herausforderung, von innen und außen aufgelegte Gedankenmuster zu erkennen, zu hinterfragen und zu transformieren. Mit Leidenschaft, Disziplin und Kontinuität können wir fast alles (er)schaffen. Musik ist ein wunderbarer Spiegel für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und die zwischenmenschlichen Beziehungsebenen.

kobinet-nachrichten: Und wie ist das im Zusammenwirken mit anderen?

Mischa Gohlke: Ich mache generell gute Erfahrungen, wenn ich bei neuen Kontakten offen und direkt kommuniziere, dass ich hörgeschädigt bin. Und meinem Gegenüber gleich am Anfang der Kommunikation sage, dass sie gerne ganz "normal" sprechen können und es meine Aufgabe ist, Bescheid zu sagen, wenn ich etwas nicht verstehen sollte. Je selbstverständlicher ich es agierend in den Kontakt bringe, umso einfacher und unkomplizierter ist es für mein Gegenüber und die gemeinsame Kommunikation.

kobinet-nachrichten: Mit dem Inklusionssong für Deutschland haben Sie eine Lücke gefüllt, dass es viel zu wenig Lieder mit progressiven Inhalten zum Thema Behinderung gibt. Wie ist der Song angekommen?

Mischa Gohlke: Bei dem aufwendig produzierten Musikvideo "AndersSein vereint – Inklusionssong für Deutschland" singen, rappen, tanzen, grooven und gebärden über 80 Protagonisten für die "ganzheitlich gelebte Inklusion". Warum das Ganze? In der aktuellen öffentlichen Debatte wird Inklusion überwiegend auf die Integration von Menschen mit formal anerkannter Behinderung in der Schule und im Arbeitsleben runter gebrochen. Dabei kann, soll und muss Inklusion wesentlich mehr sein. Inklusion ist keine Spezialkonvention, sondern die Konkretisierung der universellen Menschenrechte. Das beinhaltet alle Bereiche, die unser Leben in einer komplexen heterogenen Gesellschaft ausmachen: soziale, ökologische, ökonomische, bildungspolitische, kulturelle, spirituelle, globale, persönliche und zwischenmenschliche Themen können nicht mehr getrennt voneinander, sondern müssen – in Beziehung zueinander stehend – als Ganzes wahrgenommen (und angenommen) werden. Die "gelebte Inklusion" bietet die große Chance, neue notwendige gesellschaftspolitische Prozesse und Strukturen auf Grundlage einer essentiellen Bewusstseinsdebatte in die Wege zu leiten. Inklusion betrifft uns also ALLE! Darüber hinaus: Sind wir nicht alle behindert? Egal ob körperlich, mental, sozial, emotional, finanziell oder/und strukturell? Viele Barrieren finden in den Köpfen statt.

kobinet-nachrichten: Wie war das Medienecho auf den Song?

Mischa Gohlke: "AndersSein vereint" hat bereits viele Menschen, Medien, Organisationen und Institutionen erreicht. Die universale Botschaft der "ganzheitlich gelebten Inklusion" berührt viele. Diverse Medien – u.a. N3, HH1, NDR 90.3, Deutsche Welle, Hamburger Abendblatt, Kieler Nachrichten, radioBERLIN - haben bereits über das Projekt berichtet und wir sind immerhin zwei Wochen in den Charts gewesen. "AndersSein vereint" erobert verschiedenste Bühnen, zuletzt ist das Musikvideo bei den Inklusionstagen 2015 im Berlin Congress Center gezeigt worden. Es entstehen mehr und mehr Multiplikatoren und Synergieeffekte, worauf aufbauend weiterführende (Kooperations)Projekte wie Konzerte, inklusive Festivals, Workshops, Projektwochen, usw. entstehen. Das Musikvideo hat bei youtube aktuell ca. 66.700 Aufrufe, da geht sicherlich noch mehr. Helft uns gerne, das Musikvideo in euren Kreisen zu verbreiten und an die Menschen zu bringen.

kobinet-nachrichten: Welche weitere Projekte planen Sie mit ihrem Projekt?

Mischa Gohlke: Das Gesamtprojekt "AndersSein vereint – Inklusionssong für Deutschland" setzt sich ja zusammen aus den Modulen Tonstudio, Musikvideo und Kampagne. Ziel ist es für die "ganzheitliche gelebte Inklusion" zu begeistern und mit der Thematik in die Mitte der Gesellschaft zu kommen. Darüber hinaus wollen wir verschiedenste Menschen, Szenen, Künste und Themen zusammenbringen und über die mediale Kampagne hinaus Basisarbeit leisten. Dies beinhaltet Projekte wie inklusive Festivals, Aktionstage Inklusion in Schulen und Universitäten, diverse Workshops und Seminare sowie eine Inklusions-Tournee durch Deutschland. Am 21.01.2016 findet das "2. AndersSein vereint Festival" im Hamburger Knust statt. Und wir planen, einen 2. Inklusionssong zu machen.

kobinet-nachrichten: Das ist ja ein Feuerwerk an Energie. Wie kann man Sie unterstützen?

Mischa Gohlke: Für unsere Projekte brauchen wir vor allem Geld. Darüber hinaus freuen wir uns über jeden Support, in welcher Form auch immer. Also liebe Leser und Leserinnen der kobinet-nachrichten: wenn ihr einen Impuls habt, dann schaut gerne auf unsere Webseite www.grenzensindrelativ.de und schreibt mir eine E-Mail. Alles Weitere und Konkrete können wir dann ja im direkten Dialog gemeinsam kreieren!

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview und ich bin gespannt, was es von Ihnen noch zu hören und zu sehen gibt.