15 Thesen zur Reform der Eingliederungshilfe

Porträt von Horst Frehe (c) ISL e.V.Am Donnerstag, den 3. Februar tagt in Berlin die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich mit der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe befasst. Zur Vorbereitung eines Gesetzentwurfs für die laufende Wahlperiode sollen abschließend die Verbände angehört werden. Dazu hat Horst Frehe, Sprecher des partei- und verbandsübergreifenden Forums behinderter Juristinnen und Juristen, unter dem Titel “Chancengleichheit ist Menschenrecht - uneingeschränktes Wahlrecht realisieren!” 15 Thesen zur Reform der Eingliederungshilfe und zu einem Gesetz zur Sozialen Teilhabe formuliert:

„Chancengleichheit ist Menschenrecht - uneingeschränktes Wahlrecht realisieren!“

15 Thesen zu einem Gesetz zur Sozialen Teilhabe und zur Reform der Eingliederungshilfe

  1. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) werden neue Anforderungen an die Leistungen für behinderte Menschen gestellt. Nicht mehr soziale Fürsorge, Fremdbestimmung, besondere Einrichtungen und spezielle Gestaltungen sollen behinderte Menschen versorgen, sondern Soziale Teilhabe, Selbstbestimmung, Inklusion und Barrierefreiheit sind die Grundsätze, nach denen sich auch das Behindertenrecht auszurichten hat.
  2. Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) hat sich daher intensiv mit der Reform der Eingliederungshilfe befasst und in Umsetzung der BRK gesetzgeberische Vorschläge zur Reform der Eingliederungshilfe entwickelt. Diese Vorschläge gehen einerseits nicht weit genug, andererseits sind sie mit der neuen Menschenrechtslage aufgrund der BRK nicht kompatibel.
  3. Die ASMK geht zu Recht davon aus, dass die individuellen Bedürfnisse behinderter Menschen gegenüber den Interessen der Leistungserbringer gestärkt werden müssen. Sie spricht sich daher für einen personenzentrierten Ansatz in der Eingliederungshilfe aus, der die Höhe der Leistung unabhängig davon bestimmt, ob jemand eine stationäre oder ambulante Leistung erhält. Die Bevorzugung der stationären Unterbringung soll abgebaut werden.
  4. Art. 19 BRK sieht vor, dass niemand gegen seinen Willen auf eine besondere Wohnform verwiesen werden darf. Daraus folgt ein uneingeschränktes Wahlrecht behinderter Menschen zwischen stationären und ambulanten Leistungen in der selbstgewählten häuslichen Umgebung. Einen Mehrkostenvorbehalt darf es danach nicht mehr geben.
  5. Daraus folgt, dass die „berechtigten“ Wünsche (§ 9 SGB IX) bei der Wahl der Lebensform und nicht mehr nur die „angemessenen“ Wünsche (§ 9 SGB XII) auch in der Eingliederungshilfe ohne den Kostenvorbehalt (§ 13 Abs. 1 SGB XII) zu berücksichtigen sind. Diese menschenrechtliche Anforderung ist auch für die Eingliederungshilfe umzusetzen.
  6. Zu einer solchen Umorientierung in der Eingliederungshilfe gehört auch die Infrastrukturverpflichtung der Leistungsträger, die sozialen allgemeinen sozialen Dienstleistungen für behinderte Menschen zugängig zu machen und sie auf die Bedürfnisse behinderter Menschen auszurichten. Diese Anforderung aus Art. 19 BRK geht über die reine Erbringung von Sozialleistungen hinaus.
  7. In Artikel 19 BRK wird gefordert, dass behinderten Menschen auch die ‚Persönliche Assistenz‘ als Unterstützungsform zur Verfügung stehen muss. Die Form der Leistungserbringung, die ähnlich wie das ‚Persönliche Budget‘ bisher kaum Anwendung findet, ermöglicht in besonderer Weise, dass behinderte Menschen selbstbestimmt gemeinsam mit anderen oder alleine leben können.
  8. Auch Pauschalleistungen, Pflegesätze, Leistungskomplexe oder die Einordnung behinderter Menschen in Hilfebedarfsgruppen als Vergütungsformen für die Leistungserbringung sind nicht geeignet, dem in der BRK geforderten Prinzip der Individualisierung der Hilfen gerecht zu werden.
  9. Eine volle und mit Anderen gleichberechtigte Soziale Teilhabe im Sinne der BRK setzt eine umfassende Anpassung der seit 1961 weitgehend unveränderten Leistungsansprüche in der Eingliederungshilfe voraus, die nicht zu Leistungseinschränkungen – wie von der ASMK beabsichtigt – sondern zu einer begrenzten Leistungsausweitung führen muss.
  10. Eine Neustrukturierung der ‚Sozialen Teilhabe‘ als gleichrangiger Anspruch neben der medizinischen Rehabilitation und der beruflichen Teilhabe im SGB IX, setzt allerdings dann auch eine Kostenträgerschaft des Bundes voraus. Damit würde die ‚Soziale Teilhabe‘ nicht mehr als Fürsorgeanspruch, sondern als Anspruch auf ‚Soziale Förderung‘ zum Ausgleich von Nachteilen ausgestaltet werden.
  11. Mit einer solchen Umgestaltung wäre eine Heranziehung behinderter Menschen oder ihrer Angehörigen zu den Kosten der Leistungen zur Sozialen Teilhabe nicht vereinbar. Chancengleichheit als Menschenrecht darf nicht nur auf dem Armutsniveau der Fürsorge stattfinden.
  12. Das partei- und verbandsübergreifende „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“ (FbJJ) hat daher auf Anregung von ISL und ForseA und mit Unterstützung von DBSV, BSK und Weibernetz  die Arbeit an einem Gesetzentwurf zur ‚Sozialen Teilhabe‘ aufgenommen und wird ihn in Kürze vorlegen.
  13. Die ASMK wird daher aufgefordert, ihre Überlegungen nicht auf die beabsichtigte Teilreform der Eingliederungshilfe zu beschränken, sondern unter Einbeziehung der ‚Expertinnen und Experten in eigener Sache‘ eine umfassende Neugestaltung der Eingliederungshilfeansprüche in einem neuen Kapitel 7 zur ‚Sozialen Teilhabe‘ im ersten Teil des SGB IX vorzunehmen.
  14. Dabei müssen der Anspruch auf persönliche Unterstützung und die Leistungsformen des Persönlichen Budgets und der Persönlichen Assistenz eine besondere Bedeutung bekommen. Mit einem Anspruch auf Teilhabegeld sollten gleichzeitig die Länderregelungen zum Blinden-, Pflege-, Sehbehinderten-, Hörgeschädigten- und Gehörlosengeld ersetzt werden.
  15. Nur eine umfassende Reform der Eingliederungshilfe und die Weiterentwicklung zu einem inklusiv ausgerichteten Anspruch auf Soziale Teilhabe setzen die Vorgaben der BRK in deutsches Sozialrecht für behinderte Menschen um. Bei allen Überlegungen zur Neugestaltung sollte der Entwurf des FbJJ abgewartet und dieser in die Diskussion einbezogen werden.

Bremen, den 2. Februar 2011

Horst Frehe, Sprecher des Forums behinderter Juristinnen und Juristen