Wir müssen aus dem Fürsorgegedanken raus
"Wir müssen aus dem Fürsorgegedanken raus", so bringt Alexander Ahrens eine der zentralen Herausforderungen in der Behindertenpolitik auf den Punkt. Er arbeitet seit kurzem bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) und bringt dort vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit seine langjährigen Erfahrungen aus seiner Tätigkeit für den Verkehrsclub Deutschland (VCD) ein. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit dem Neuankömmling in der Selbstbestimmt Leben Bewegung über seine Tätigkeit und Ziele.
kobinet-nachrichten: Seit kurzem sind Sie in der Selbstbestimmt Leben Bewegung als neuer Beschäftigter der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) angekommen. Was haben Sie bisher gemacht und was treiben Sie nun voran?
Alexander Ahrens: Während des Studiums der Publizistik und Filmwissenschaften an der FU-Berlin war ich einige Zeit in der Fernsehprogrammforschung tätig. Einige Monate lang hatte ich die Möglichkeit, mich als Videojournalist-Praktikant in einer TV-Produktionsfirma auszuprobieren. Vor knapp 10 Jahren bin ich dann, wie immer im Leben, durch Zufall zum VCD e.V. (Verkehrsclub Deutschland) gekommen. Dort arbeitete ich in der Mobilitätsberatung und in verschiedenen verkehrspolitischen Projekten des Bundesverbandes.
Erst in der Arbeitswelt und als Vater eines ebenfalls von Glasknochen betroffenen Kindes, erfährt man plötzlich bewusst die Ausgrenzung und Hindernisse in der Selbstbestimmung als Familie. Mit dem Wechsel zur ISL möchte ich meine persönlichen Erfahrungen für das Thema Selbstbestimmtes Leben ebenfalls mit einfließen lassen.
Ich bin froh, auf viele Gleichgesinnte zu treffen und dabei zu sein. Bei der ISL werde ich ab jetzt die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von H. Günter Heiden weiterführen und bin zudem im von der Aktion Mensch geförderten Inklusionsprojekt BIRLIKTE tätig. Hier veranstalten wir demnächst in Berlin unser Job-Speed-Dating für Menschen mit Behinderung. Alles läuft auf Hochtouren.
kobinet-nachrichten: Was bringen Sie aus Ihrem Wirken beim Verkehrsclub Deutschland in die Behindertenbewegung mit ein? Kann man da einiges lernen?
Alexander Ahrens: Die Außenwirkung und öffentliche Wahrnehmung eines Vereines, egal welche Größe dieser hat, lebt letztendlich von guten Inhalten und von einem guten öffentlichen Auftritt. Sowohl ein professionelles Beratungsangebot für Betroffene und Interessierte, als auch Aufklärung durch die Selbstvertretungsorganisationen, kann das gesellschaftliche Bild von behinderten Menschen weiterhin in unserem Sinne verändern. Wie in der Umweltbewegung dürfen wir in der Behindertenbewegung uns der Wiederholung nicht satt werden. Nur so können wir gemeinsam das Denken der Menschen über uns verändern und nachhaltig prägen. Hier bei der ISL und den anderen Verbänden treffe ich auf so viele erfahrene und engagierte Mitstreiter*innen, von denen ich noch etwas lernen kann.
kobinet-nachrichten: Welche Schwerpunkte in Sachen Öffentlichkeitsarbeit sind Ihrer Ansicht nach derzeit wichtig?
Alexander Ahrens: Wir haben uns vor kurzem eine alte TV-Talkshow aus dem Jahr 1996 auf Videokassette angeschaut. Zufällig waren Sigrid Arnade und ich damals gemeinsam zu Gast in dieser Sendung. Dort wurden wir noch als Menschen beschrieben, die an den Rollstuhl gefesselt sind. Ein junger Erwachsener lebte, anscheinend wegen fehlender Informationen zur persönlichen Assistenz, die es damals auch schon gab, immer noch im Seniorenheim. Außerdem habe ich in meinem Insert (der Text-Einblendung unter meinem Bild) noch an meiner Krankheit gelitten. Diese Sendung von vor gut 20 Jahren zeigt mir, dass sich in der Darstellung ein wenig etwas zum Positiven verändert hat und wir es immer wieder mantraartig in der Öffentlichkeit wiederholen müssen: wir leiden nicht, wir leben in Wohnhäusern und nicht im Rollstuhl. Wir selbst können mehr und mehr das mediale Bild mitbestimmen. Außerdem müssen wir allen anderen Menschen ohne Einschränkungen mitteilen, dass der jetzt geführte Kampf letztendlich für alle von Nutzen ist. Jeder Mensch wird älter, krank oder kann verunfallen - dann ist man über kurz oder lang auf Unterstützung angewiesen.
Konkret planen wir den Relaunch der ISL-Website und prüfen den Ausbau unserer Inhalte in den Sozialen Medien.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie drei Wünsche für die Behindertenpolitik frei hätten, welche wären das?
Alexander Ahrens: Die letzte Frage gefällt mir sehr gut. Die komplette Teilhabe am gesellschaftlichen Leben muss aus diesem Fürsorgegedanken raus. Nichts von dem darf mehr einkommens- oder vermögensabhängig sein und zwar ab sofort.
Noch sehr geprägt aus meiner verkehrspolitischen Tätigkeit, fordere ich zwei Aufzüge pro Bahnsteig, um den Alltag bei der Benutzung des öffentlichen Personenverkehrs verlässlicher planen zu können. Außerdem muss flächendeckend die Mitnahme von behinderten Menschen im Fernlinienbus schneller umgesetzt und gewährleistet werden. Hier ist man nicht, wie bei der Bahn, von funktionierenden Aufzügen abhängig. Alle Verkehrsangebote müssen darüber hinaus niederschwelliger angeboten werden. Außerdem sollte das widerrechtliche Parken auf einem Schwerbehindertenparkplatz öfter und stärker geahndet werden.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.