Schichtwechsel 2020: Und jährlich grüßt das Murmeltier ...

Berlin, 17. September 2020. Alle Jahre wieder wird mit dem Schichtwechsel eine Image-Kampagne veranstaltet, die nichts mit einem ernstgemeinten und wahrhaftigen Systemwechsel zu tun hat.

Alle Jahre wieder wird Inklusion des Inhaltes entleert und als schmückendes Etikett verwendet damit es wohlklingender daher kommt. Zusammen mit der Gegen-Kampagne BLICKWECHSEL von den SOZIALHELDEN begleiten wir diesen Tag gemeinsam kritisch.

Davon kann auch Karsten berichten, der mit dem Instrument des Teilhabechancengesetz jetzt bei der ISL e.V. als Referent für Job-Speed-Datings in Berlin tätig ist, es zuvor aber jahrelang so aussah, als gäbe es „aufgrund seiner Beeinträchtigung“ keine Alternative zum zweiten Arbeitsmarkt. Vor 20 Jahren traf ihn plötzlich eine Diagnose, – was danach kam waren eine lange Arbeitslosigkeit, mehrere Maßnahmen der Umschulung  - „wo wäre er heute?“, haben wir ihn gefragt.

Karsten ist seit 2018 bei der ISL tätig und engagiert sich, u.a. mit dem Format des Job-Speed-Datings, Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen. Wie sein weiteres berufliches Leben mit einer Einschränkung vielleicht verlaufen wäre, erzählt er uns hier. 

ISL: Wo wärest Du heute, wenn Du zwei 2013 ja zur Werkstatt gesagt hättest?                

Karsten: Ja, wo wäre ich heute? Man wollte mich 2013 aus dem Arbeitsleben rausnehmen. Es wurde sogar extra ein Gutachten der Agentur für Arbeit erstellt, in dem mir attestiert wurde, dass für mich eine Behindertenwerkstatt sinnvoll und möglich ist. Da war ich damals schon sehr böse drüber, obwohl ich immer gesagt habe, dass ich mich in solch einer Werkstatt nicht sehe. Wenn ich ja gesagt hätte, dann würde ich da sicherlich heute noch drin sein. Ich hätte meine Person und Arbeitskraft als ausgenutzt gesehen. Erst jetzt im Nachhinein durch meine Tätigkeit bei der ISL habe ich mitbekommen, wie gut meine damalige Entscheidung war, nicht ins System Werkstatt gesteckt worden zu sein. Ich hätte mich auch von 2013 bis heute nie in einer Werkstatt gesehen. Ist nur die Frage, ob ich die Kraft- auch aufgrund meiner gesundheitlichen Einschränkung- gehabt hätte, mich dem immer wieder zu widersetzen. Deswegen habe ich mich von Anfang an mit Händen und Füßen dagegen gewehrt in eine Werkstatt zu gehen. Ich brauche eine Tätigkeit mit Sinn, die meine gesundheitliche und psychische Verfassung verbessert. Da habe ich ganz stark meine Zweifel, ob mir die Werkstatt da geholfen hätte. Und es ist auch nicht schön, wenn man als nicht mehr fähig gilt und abgestempelt wird. Mein ganzer Lebensstandard und der meiner Familie wäre zusammengebrochen. Höchstwahrscheinlich hätte ich auch niemals die Möglichkeit gehabt, 2018 am Job-Speed-Dating der ISL teilzunehmen. Die gute Beratung für Menschen mit Behinderungen durch das Jobcenter Berlin-Lichtenberg, speziell durch meinen engagierten und verständnisvollen Fallmanager und seinen Kolleg*innen, hätte ich sicher nicht erfahren. Ich habe mich dort zum ersten Mal verstanden und gut aufgehoben gefühlt. Ich konnte ehrlich mit meiner Lebenssituation sein, und daraus dann auch Kraft schöpfen. In dieser Beratung habe ich Hoffnung bekommen, die mir Mut gemacht hat, wirklich einen neuen Job zu finden. Auch wenn ich jetzt wieder über eine Fördermaßnahme im Job bin, habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden und werde dafür nach den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes fair bezahlt. Fakt ist: Wenn ich das damalige Angebot, in einer WfbM zu arbeiten, angenommen hätte, würde ich heute nicht diese zufriedenstellende Tätigkeit haben, bei der ich mich aktiv, auch durch meine Peer-Erfahrung, einbringen kann und andere Menschen mit einer Beeinträchtigung motiviere und dabei unterstütze, ebenfalls einen Job zu finden.

Wenn man physisch und psychisch beeinträchtigt ist und keinen starken Halt erfährt und dann plötzlich in eine Sonderwelt abgeschoben werden soll, dann ist es mir unbegreiflich, dass so viele behinderte Menschen in einer Werkstatt jahrzehntelang sind und anscheinend nicht genug Unterstützung erfahren, um auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu gelangen. Mal ganz abgesehen von der unfairen Bezahlung.

Nach dem ich nein zur Werkstatt gesagt habe, wurde nach einem Jahr ein zweites Gutachten erstellt, dass mir nun eine Arbeitsfähigkeit bescheinigte und schon mehr darauf abzielte, wie mein Arbeitsplatz gestaltet sein sollte. Das Kuriose dabei ist, dass das erste und das zweite Gutachten von denselben Leuten erstellt und unterschrieben wurde. Hier wurde nur nach Aktenlage entschieden und ich als Mensch wurde weder persönlich angehört noch nach meinen Bedürfnissen gefragt. Ich finde das frech, dass auf diese Art und Weise über Lebenswege- und wahrscheinlich auch Einbahnstraßen - von Menschen mit Behinderungen entschieden wird.

ISL: Was wären Deine Ideen, um Menschen mit Behinderungen besser in einen inklusiven Arbeitsmarkt zu bringen?

Karsten: Klar ist, das ist nicht einfach – aber machbar. Bei meiner Tätigkeit habe ich gelernt, dass behinderte Menschen nicht weniger oder mehr motiviert sind als nichtbehinderte Menschen. Allerdings haben Menschen mit Behinderungen oft viel mehr und länger schlechte Erfahrungen bei der Jobsuche machen müssen – dadurch müssen sie am Ende noch größere Anstrengungen aufbringen, um einen Job zu finden. Individuelle Beratung auf Augenhöhe und eine vertrauensvolle Basis ist das A und O, um eine gute Grundlage für die Jobsuche zu schaffen. Außerdem muss man versuchen, die Menschen auf Jobsuche in den direkten Kontakt mit Arbeitgeber*innen zu bringen, um die Hürden und Hemmnisse wie Vorurteile und Unkenntnis abzubauen. Am Ende sind auf beiden Seiten alles Menschen, die eine Chance verdient haben sich in dieser Gesellschaft einzubringen – mit ihren Möglichkeiten und Stärken.

Und jährlich grüßt das Murmeltier – unsere Meldungen aus dem letzten Jahr (und dem davor, und dem davor) bleibt aktueller denn je ...

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