In Gedenken der ermordeten Menschen im Oberlinhaus: Traurige Spitze eines Eisbergs der Gewalt
Berlin, 28. April 2022. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) gedenkt heute den ermordeten und verletzten Menschen im Oberlinhaus und sieht diese brutale Tat als Spitze eines Eisbergs, der institutionelle und strukturelle Gewalt an Menschen mit Behinderungen verinnerlicht hat. Ein Jahr ist seit den Morden an den vier Bewohner*innen des Oberlinhauses in Potsdam vergangen, bei denen noch ein weiterer Mensch zudem schwerstverletzt wurde. Deshalb fordern wir die Abschaffung dieser Einrichtungen, welche als geschlossene Sondersysteme Gewalt an Menschen mit Behinderungen regelrecht begünstigen. Nur eine Deinstitutionalisierung kann ein Ende dessen bedeuten.
Bei Gewalt in Einrichtungen, die mehrheitlich an behinderten Menschen verübt wird, handelt es sich nie um Einzelfälle. Im ganzen Land werden behinderte Menschen Opfer von Gewalt jeglicher Art. Trotz dessen nimmt die Mehrheitsgesellschaft dies lediglich zur Kenntnis - eine tiefgreifende Empörung bleibt aus. Eigene ableistische und damit einhergehende behindertenfeindliche Gedankenmuster werden nicht hinterfragt. Nein, sie haben sich tief eingebrannt in institutionelle und gesellschaftliche Strukturen. Laut Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) müssen alle Menschen mit Behinderungen aktiv vor Gewalt geschützt werden; alle Vertragsstaaten verpflichten sich dazu „Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu verhindern“. Dies alles sind geltende Rechte in Deutschland. Warum werden sie nicht umgesetzt?
Wir fragen daher: Warum werden stationäre Settings konstant durch Gesetzesvorhaben gestärkt, während es immer schwieriger wird, ambulant und selbstbestimmt zu leben?
Wir fragen alle Verantwortlichen: Wo bleibt der zugesagte Gewaltschutz?
Wir fragen: Welche Maßnahmen haben die Betreiber*innen dieser Enklaven der Exklusion bislang explizit getroffen, um Gewalt zu verhindern?
Wir fragen: Wann werden die Gewalttaten unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten aufgearbeitet und der Umgang damit nicht nur durch Entmenschlichung und Entwürdigung bei Gedenkfeiern mit weißen Rollstühlen und Regenbogen-Stelen abgearbeitet?
Wir trauern um Andreas, Christian, Lucille, Martina - und sind gleichzeitig voller Zorn und Wut.
Mehr Hintergrundinformationen zu diesen und anderen schrecklichen Geschehnissen findet man auf der heute gestarteten Rechercheprojekt-Seite von AbilityWatch unter #AbleismusTötet.
In einer aktuellen Folge "#93 Ein lebenswertes Leben" des True Crime Podcasts von den Journalistinnen Paulina Krasa und Laura Wohlers werden die Hintergründe der Tat und die Kritik am Umgang in den Medien darüber thematisiert.