Von Schnittmustern, einer Verbandsklage und einem besonderen Fototermin

Wendekreis-Ausmessung (c) SL BremenInterview mit Petra Wontorra und Dieter Stegmann

SelbstBestimmt Leben Bremen (SL) und die LAG Selbsthilfe Bremen (LAGS) haben gemeinsam eine Verbandsklage gegen das Eisenbahnbundesamt angestrengt. Stein des Anstoßes sind die Abteile für Rollstuhlfahrer in den Zügen der Regio-S-Bahn, die in Bremen und Umgebung verkehren. In einem Interview mit H.- Günter Heiden berichten Petra Wontorra, stellvertretende Vorsitzende bei SL und Dieter Stegmann, erster Vorsitzender der LAGS, über den aktuellen Stand und die mögliche Bedeutung des Verfahrens. Beide sind im Alltag auf ihren Rollstuhl angewiesen.


Heiden: Frau Wontorra, Herr Stegmann: Sie haben vor einigen Tagen einen etwas ungewöhnlichen Ausflug mit der Eisenbahn gemacht – was war da los?

Wontorra: Es handelte sich sozusagen um einen gerichtlich verordneten Ausflug, den wir mit Vertretern der Nordwestbahn gemacht haben. Hintergrund ist unsere Klage, die wir beim Verwaltungsgericht Köln gegen das Eisenbahnbundesamt (EBA) eingereicht haben. Es geht um einige Züge des regionalen Eisenbahnverkehrs, die unserer Meinung nach nicht den gesetzlichen Bestimmungen zur Barrierefreiheit entsprechen. Deshalb hätten sie vom EBA keine Betriebsgenehmigung bekommen dürfen. Das Verwaltungsgericht hatte in der letzten Verhandlung angeordnet, dass noch einige Tatsachen erhoben und auch Fotos von den beanstandeten Fahrzeugen im laufenden Betrieb gemacht werden sollten.

Heiden: Warum war denn das Eisenbahnunternehmen, die Nordwestbahn, mit dabei? Die ist doch eigentlich gar nicht am Verfahren beteiligt, weder als Klägerin noch als Beklagte?

Stegmann: Das stimmt. Aber wenn sich tatsächlich herausstellt, dass diese Fahrzeuge nicht den rechtlichen Vorgaben entsprechen, hat das möglicherweise Konsequenzen für den weiteren Betrieb der Regio-S-Bahn in und um Bremen, und davon wäre die Nordwestbahn unmittelbar betroffen. Deshalb ist sie dem Verfahren beigeladen worden.

Heiden: Um welche Barrieren geht es konkret? Sind die Fahrzeuge so katastrophal, dass man gleich vor Gericht ziehen muss?

Stegmann: Offen gestanden ist uns dieser Schritt nicht leicht gefallen. Zum einen kann so ein Verfahren für die Klägerseite teuer werden, jedenfalls dann, wenn man es verliert. Zum anderen haben wir nur sehr ungern den vorher guten Kontakt mit der Nordwestbahn belastet. Auch weisen die Fahrzeuge, um die wir jetzt streiten, gegenüber den Vorgängermodellen einige Vorteile auf. Richtig gefreut haben wir uns beispielsweise darauf, dass es ein besonderes Abteil für Rollstuhlfahrer und ihre Mitreisenden gibt, das man sich den Platz nicht länger mit Fahrrädern oder sonstigen Lasten teilen muss. Umso ärgerlicher ist es für uns, dass mitten in dieses Abteil eine Haltestange gesetzt wurde, die das Rangieren im Rollstuhl erheblich erschwert. Richtig hinderlich sind aber die Klappsitze an einer Seite des ohnehin schmalen Gangs, der zu diesem Abteil führt. Das führt dazu, dass ausgerechnet dieses Abteil für Menschen im Rollstuhl besonders schwer zugänglich ist. Dummerweise ist es das einzige Abteil, von dem Rollstuhlfahrerer die Toilette erreichen können – und das auch nur durch diesen schmalen Gang mit den Klappsitzen.

Heiden: Und was ist an diesen Klappsitzen so problematisch?

Wontorra: Bereits im hochgeklappten Zustand engen sie den Zugang ein, wenn auch nur um wenige Zentimeter. Wenn die Sitze aber besetzt sind – und das sind sie zu den Hauptverkehrszeiten fast immer – ist für Rollstuhlfahrer zunächst kein Durchkommen. Die Mitreisenden müssen nicht nur gebeten werden, aufzustehen, sondern den Gang kurzzeitig verlassen, was längst nicht jeder ohne Murren oder überflüssige Bemerkungen macht. Ich bin in diesem Zug öfter unterwegs – ich spreche da aus Erfahrung.


Situation_im_Gang (c) SL Bremen

Stegmann: Wir hatten alle Beteiligten rechtzeitig vorher auf dieses Problem aufmerksam gemacht – aber offensichtlich ohne Erfolg. Das wollten wir nicht so stehen lassen. Deshalb blieb uns nur der Klageweg.

Heiden: Aus Ihrer Sicht scheint die Sache ja klar zu sein – was gibt es denn da noch zu streiten?

Stegmann: Um es etwas vereinfacht auszudrücken: Das Eisenbahnbundesamt, als auch der Hersteller sowie das Eisenbahnunternehmen und nicht zuletzt die Landesregierungen von Bremen und Niedersachsen orientieren sich in ihrem Verständnis von Barrierefreiheit an der sogenannten TSI-PRM. Das ist eine europaweit gültige Norm für die barrierefreie Gestaltung von Fernverkehrszügen. Wir haben aber Zweifel, dass die Norm tatsächlich erfüllt ist. Außerdem meinen wir, dass in Deutschland möglicherweise strengere Vorgaben gelten, und gehen dabei von den Bedürfnissen behinderter Menschen vor Ort und den deutschen Gesetzen aus. Es geht also auch um grundsätzliche Fragen.

Heiden: Wie sieht das Verwaltungsgericht die Angelegenheit? Und was ist bei dem gemeinsamen Ausflug herausgekommen?

Wontorra: Es hat im Januar eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Köln gegeben. Wir haben dort Fotos von der Situation zu Hauptverkehrszeiten zeigen können, die das Gericht zumindest nachdenklich gemacht haben. Doch das Gericht wollte sich wohl nicht nur auf unsere Fotos verlassen, deshalb gab es jetzt diesen Beweiserhebungstermin, auf dem viel gemessen und fotografiert wurde. Um die Anschauung zu erleichtern, hatten wir einen Wendekreis aus Schnittmusterpapier mit einem Durchmesser von 150 cm mitgebracht. Wenn das Abteil leer ist, sieht es so aus, als ob die TSI-PRM erfüllt sei. Aber deutlich wurde auch, wie sehr die Klappsitze zu den Hauptverkehrszeiten die barrierefreie Erreichbarkeit des Rollstuhlfahrerabteils einschränken.

Stegmann: Unabhängig davon hat sich das Gericht in der Frage, welche Bestimmungen zur Barrierefreiheit wie anzuwenden sind, überhaupt nicht in die Karten schauen lassen. Das Gericht hat aber an alle Beteiligten appelliert, sich auf eine pragmatische Kompromisslösung zu verständigen, damit die Klage zurückgezogen werden kann. Allerdings kann eine solche Lösung nur zustande kommen, wenn sie von den Landesregierungen Bremens und Niedersachsens unterstützt wird.

Heiden: Angenommen, Bremen, Niedersachsen und die Nordwestbahn hätten ein Einsehen und würden einen guten Kompromiss anbieten. Wäre es dann nicht trotzdem besser, das Verfahren weiterzuführen, um die vielen grundsätzlichen Fragen zu klären?

Wontorra: Vielleicht, doch das könnte dauern. Was wir wollen, ist eine barrierefreiere Regio-S-Bahn, und das lieber heute als morgen. Wir sind keine Prinzipienreiter, außer man lässt uns keine Wahl.

Heiden: Vielen Dank für das Gespräch!