Immer wieder Menschenrechte unter Kostenvorbehalt!?
Eine persönliche Betrachtung von Dr. Sigrid Arnade, ISL-Geschäftsführerin
Gestern, am 28. August 2016, habe ich an einem stillen Gedenken und einem Gottesdienst zur Erinnerung an die Opfer der NS-Patientenmorde teilgenommen. Zunächst wurden weiße Rosen am Mahnmal T4 in der Berliner Tiergartenstraße niedergelegt. Anschließend fand in der St. Matthäus-Kirche ein interreligiöser Gottesdienst mit evangelischen, katholischen und jüdischen Theolog*innen statt.
Einige Fakten im Zusammenhang mit der Ermordung von über 300.000 chronisch kranken und behinderten Menschen wurden benannt, so auch das Argument für die Morde, dass der Staat sich diese „Kostenfaktoren“ nicht leisten könne. Da horchte ich auf und dachte daran, dass die Kosten auch in der gegenwärtigen Debatte um das Bundesteilhabegesetz angeführt werden, um behinderten Menschen ihre Menschenrechte vorzuenthalten.
Aber zurück zum Gedenken: Diese dunklen Zeiten der NS-Diktatur sind glücklicherweise vorbei, so dass wir uns mit Schaudern und vielleicht auch ein wenig Scham erinnern können und in unserem hektischen Alltag kurz innehalten. Die Rede war von den Opfern, den Tätern, den Familien, den Mitmenschen. Gesprochen wurde in den Reden auch von Respekt und Würde, von der Behindertenrechtskonvention, von Inklusion und sogar vom Bundesteilhabegesetz.
Da war sie wieder, die Verbindung vom damals zum heute. Damals mussten Menschen aus Kostengründen sterben. Heute wird behinderten Menschen aus Kostengründen das zentrale Menschenrecht der freien Wahl von Wohnort und Wohnform vorenthalten. Als sei es selbstverständlich, dass für Menschen mit Behinderungen nicht dieselben Menschenrechte gelten und realisiert werden wie für alle anderen Bürger*innen dieses Landes.
Auf der Rückfahrt habe ich an diejenigen gedacht, die heute im Brustton der Überzeugung behaupten, es sei zu teuer, alle Menschenrechte für behinderte Menschen umzusetzen, und ich habe mich gefragt, welche Rolle diese Frauen und Männer wohl vor 75 Jahren gespielt hätten.
Foto: Wikimedia Commons 4028mdk09 (Eigenes Werk)
Bei der Jobsuche behindert? „Birlikte“ will das ändern
Das Wort "birlikte" stammt aus dem Türkischen und bedeutet "gemeinsam" oder "zusammen". Das Projekt, das vorrangig von den beiden Behinderten-Selbstvertretungsverbänden Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) und InterAktiv e.V. sowie der Unternehmensberatung DG Consulting getragen wird, will für den Bereich des Landes Berlin in den Jahren 2016 - 2019 dazu beitragen, einem inklusiven Arbeitsmarkt im Sinne des Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) näher zu kommen. Im Fokus des Projekts stehen behinderte Menschen mit Migrationshintergrund, da sie auf dem Arbeitsmarkt besonders benachteiligt sind.
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Gesundheitsversorgung chronisch psychisch kranker Menschen sichern!
Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat in einer Stellungnahme für das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ihre Besorgnis über den Referentenentwurf eines "Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen“ (PsychVVG) zum Ausdruck gebracht: "Der Entwurf birgt die Gefahr, dass schwer und chronisch psychisch kranke Menschen zukünftig vom Krankenhaus abgewiesen werden könnten, auch in akuten Krankheitsepisoden", betont Eva Buchholz, ISL-Referentin für Gesundheitspolitik. Dies sei darauf zurückzuführen, dass der PsychVVG-Entwurf die stationäre Versorgung dieser Patient*innen-Gruppe selbst bei einer akuten Verschlimmerung des Krankheitszustandes gesetzlich als nicht notwendig festschreiben möchte. Zusätzlich sollen denjenigen Krankenhäusern Betten gekürzt werden, die eine „stationsäquivalente Behandlung im häuslichen Umfeld“ erbringen möchten – eine solche Behandlung soll durch das PsychVVG eingeführt werden. Dies würde nach Ansicht der ISL die Konkurrenz um die Betten in psychiatrischen Stationen zusätzlich verschärfen.
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Video: Käfighaltung? Nein Danke!
"Käfighaltung? Nein Danke!" So titeln die Kellerkinder ihr gut dreiminütiges Video von der Protestaktion am Berliner Hauptbahnhof zum Kabinettsbeschluss für einen Gesetzentwurf zum Bundesteilhabegesetz, die am Dienstag, 28. Juni, in Berlin stattfand. Der pfiffig geschnittene Film bietet vor allem auch für diejenigen, die nicht bei der Aktion dabei sein konnten, weil sie unter anderem nicht die Assistenz dafür hatten, einen Einblick über die Atmosphäre. Der Verein Kellerkinder e.V. ist eine Mitgliedsorganisation der ISL. Hier der Link zum Film über die Käfig-Aktion: https://youtu.be/R1sHKY5S7oA
BTHG-Prozess: Partizipation sieht anders aus
In Statements von VertreterInnen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und von Abgeordneten der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD wird immer wieder auf den vorbildlichen Beteiligungsprozess zum Bundesteilhabegesetz verwiesen. Nachdem nach der Veröffentlichung des Referentenentwurfs die Rufe "NichtmeinGesetz" immer lauter werden, gerät auch der hoch gelobte Beteiligungsprozess zunehmend in ein anderes Licht. "Echte Partizipation sieht anders aus", bringt es die Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), Dr. Sigrid Arnade, auf den Punkt.
Die Verbände hätten unheimlich viel Energie in den Beteiligungsprozess vom Juli 2014 bis April 2015 investiert, um dann festzustellen, dass sie nach den allgemeinen Diskussionen im konkreten Gesetzesverfahren praktisch nicht mehr vorkommen und mit einer einfachen Null-Acht-Fünfzehn-Anhörung nach dem Motto "Friss oder Stirb" abgespeist werden. "Da sind wir vom Prozess der Aushandlung der UN-Behindertenrechtskonvention in New York in Sachen Partizipation anderes gewohnt. Denn damals war klar, dass nichts verabschiedet wird, das wir nicht mittragen können", erklärte Dr. Sigrid Arnade. Nach dem Wälzen vieler Papiere und dem Einholen der Meinungen der Verbände sei der Beteiligungsprozess im Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf halber Strecke stecken geblieben.
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Von Hans-Jochen Vogel bis zu Petra Stephan: alt + behindert = ???
Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat das Programm zum Thema „Altersbilder“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) um die Perspektive behinderter Menschen ergänzt. Das Programm "Altersbilder" hat sich zum Ziel gesetzt, aktuelle Altersbilder in der Gesellschaft zu fördern und neue, differenziertere und realistische Bilder des Alter(n)s zu unterstützen - deshalb durfte nach Ansicht der ISL das Merkmal "Behinderung" nicht fehlen.
In einem neuen Online-Katalog werden jetzt fünf Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen mit Fotos und kurzen Zitaten vorgestellt. Dabei reicht die Spanne vom früheren SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel bis zum ISL-Vorstandsmitglied Petra Stephan. "Dadurch soll nicht nur deutlich werden, dass ein Leben mit Behinderung mit hoher Lebensqualität verbunden sein kann, sondern auch, dass dieser Fakt selbst noch im hohen Lebensalter stimmt", betont ISL-Geschäftsführerin Dr. Sigrid Arnade. "Vermittelt werden soll auch die Erkenntnis, dass eine Beeinträchtigung Menschen in ihrer Lebensgestaltung nicht wesentlich einschränken muss, wenn die Umgebungsfaktoren stimmen". Das Projekt wurde durch das BMFSFJ finanziell gefördert.
Die Porträts unter dem Titel „alt + behindert = ???“ können als barrierefreie PDF abgerufen werden unter:
http://www.programm-altersbilder.de/fileadmin/de.programm-altersbilder/content.de/user_upload/Bilder/downloads/Altersbilder.pdf
Teilhabegesetz widerspricht Vorgaben der UN
Die Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), Dr. Sigrid Arnade, war bei vielen Sitzungen dabei, als die Behindertenrechtskonvention bei den Vereinten Nationen in New York ausgehandelt wurde. In einem Interview mit der Jungen Welt zeigte sich die Behindertenrechtlerin entsetzt über den Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz, der den Vorgaben der UN eklatant widerspreche.
Auf die Frage von Ralf Wurzbacher von der Jungen Welt: "CDU/CSU und SPD haben am Mittwoch abend den Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen beschlossen. Während die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles so tut, als wäre das der ganz große Wurf, sprechen Behindertenverbände von einer 'großen Enttäuschung'. Was stört Sie an den Plänen?" antwortet Sigrid Arnade: "Nicht alles, aber ziemlich viel. Das geht los mit der Reform der Eingliederungshilfe, die man aus der Sozialhilfe heraus- und ins Sozialgesetzbuch IX überführen will. Die damit verheißenen Ziele – mehr Selbstbestimmung, Inklusion, die Verwirklichung von Menschenrechten – sind aber weitgehend Etikettenschwindel. Tatsächlich wird der Zugang zu notwendigen Leistungen erschwert, was vor allem an der sogenannten 5-aus-9-Regelung liegt: Die besagt, dass nur Anspruch auf Hilfe hat, wer in fünf von neun definierten Lebensbereichen erheblichen Einschränkungen unterliegt."
Im weiteren Interview bringt Sigrid Arnade zum Ausdruck, dass sie nicht hoffe, dass dieser Unsinn umgesetzt wird und weist auf weitere Probleme mit dem Referentenentwurf hin. So zum Beispiel der Vorrang der Hilfe zur Pflege gegenüber Leistungen der Eingliederungshilfe. Dies komme einer Bevorzugung stationärer Wohnformen gleich und damit einer Abkehr vom Gedanken des selbstbestimmten Lebens. Damit widerspreche der Referentenentwurf eklatant den Vorgaben der Vereinten Nationen und sei schlichtweg eine Mogelpackung, so die Kritik von Sigrid Arnade in der Jungen Welt vom 4. Juni (komplettes Interview in der Anlage).
"Selbstbestimmt und mittendrin?" - Eindrücke von einer Fachtagung

Beginnen wir einmal mit dem Ende: Die heutige Fachtagung der SPD-Bundestagsfraktion zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) unter dem vollmundigen Titel "Selbstbestimmt und mittendrin - das Bundesteilhabegesetz kommt!" endete mit der spontanen Erstürmung des Podiums, das vorrangig aus SPD-Abgeordneten und Rehaträgern bestand - die Menschen mit Behinderungen hatte man selbstbestimmt unten gelassen: "Für wen ist denn das Gesetz? Für die Betroffenen? Die Betroffenen wollen es nicht!" betonte Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), nachdem sie sich das Mikro erkämpft hatte. "Wir sind es leid, als Spielball benutzt zu werden!" ergänzte Raul Krauthausen von den Sozialhelden, der zusammen mit Arnade auf das Schlusspodium gerollt war.
So typisch wie dieses Schlussbild war auch der Verlauf der vierstündigen Veranstaltung: Selbstlob der Fraktion und der Ministerin, die per Videobotschaft zugeschaltet wurde, und massive Kritik an dem Gesetzesvorhaben von Betroffenen und Verbänden. Während es beim Eingangsstatement von Carola Reimann, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, nur Kopfschütteln auslöste, als sie davon sprach, die SPD sei "die Inklusionspartei", endeten die Grußworte der Ministerin in einem Protestchor: Mit den Worten "An Tagen wie diesen müssen wir unbequem sein!", sangen die AktivistInnen dagegen an, dass ihnen das Gesetz als "Meilenstein in der Politik für Menschen mit Behinderungen" von Andrea Nahles verkauft werden soll.
BMAS-Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller freute sich dann auf "heiße Debatten", als sie das Gesetzesvorhaben vorstellte, das Ende Juni ins Kabinett, in der zweiten Septemberhälfte in den Bundestag und zu Weihnachten verabschiedet sein soll. Die bekam sie dann auch, da sie immer wieder von Zwischenrufen wie "Nicht mein Gesetz!" und "Lüge!" unterbrochen wurde. Sehr verharmlosend sprach sie von einer "Baustelle", als es um die Problematik ging, dass die "Hilfe zur Pflege" im Gesetzesvorhaben Vorrang vor der Eingliederungshilfe hat. "Wenn das nicht geändert wird, können wir uns das Ganze sparen", kritisierte Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen diese zentrale Frage. "Und das ist keine Kleinigkeit, sondern eine Täuschung und Verarschung von Menschen mit Behinderungen in einem existenziellen Bereich!"
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Persönliche Assistenz stärken - Teilhabe vor Pflege!
Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) lehnt den Vorrang der Hilfe zur Pflege gegenüber Leistungen der Eingliederungshilfe strikt ab, der in § 63b SGB XII (Leistungskonkurrenz) im Entwurf zum Dritten Pflegestärkungsgesetz (PSG III) enthalten ist. Anlässlich der Verbändeanhörung des Gesundheitsministeriums, die am Montag in Berlin stattfindet, kritisiert Matthias Vernaldi, ISL-Sprecher für Assistenz: "Sollte tatsächlich eine Überführung der Eingliederungshilfe in ein Bundesteilhabegesetz stattfinden, so profitieren Menschen, die mit Assistenz in der eigenen Häuslichkeit leben, davon nicht, da sie weiter im System ´Hilfe zur Pflege` verbleiben. Sie profitieren nur dann, wenn sie in eine stationäre Einrichtung, neudeutsch auch ´gemeinschaftliches Wohnen` genannt, ziehen. Dies ist finanzielle Bevorzugung stationärer Einrichtungen, die mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar ist, da sie ein selbstbestimmtes Leben erschwert statt erleichtert!"
Persönliche Assistenz, so Vernaldi, sei der Grundstein für eine selbstbestimmte Lebensführung. Seit Jahren seien die Pflegeleistungen in die Assistenz integriert, und werden zu Teilen als ´Hilfe zur Pflege` und zu Teilen als ´Eingliederungshilfe` gewährt. In Bezug auf das zu erwartende Bundesteilhabegesetz bedeute der Vorrang der ´Hilfe zur Pflege` im PSG III aber, dass schwerbehinderte Menschen und ihre Angehörigen weiterhin auf Sozialhilfeniveau gehalten werden und es keinen Anspruch auf Teilhabe mehr gibt, wenn das Pflegestärkungsgesetz wie geplant in Kraft trete.
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Deutliche Worte an Andrea Nahles
Der Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz ist völlig unzureichend, so Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, im Debattenmagazin Causa des Tagesspiegels in Berlin. Die Selbstbestimmung behinderter Menschen werde damit nicht gefördert, sondern eingeschränkt, schreibt sie in einem Beitrag unter der Überschrift "Schlaflos am Reichstagsufer ... und deshalb haben wir uns angekettet, Frau Nahles". Am Tag, da im Bundesministerium für Arbeit und Soziales erstmals die Verbände zum Referentenentwurf angehört werden, richtete Arnade deutliche Worte der Kritik an die für das Gesetzgebungsverfahren verantwortliche Ministerin.
"Von einer CDU-Sozialministerin hätten wir nichts anderes erwartet. Aber von Ihnen als einer SPD-Ministerin, die von Inklusion spricht und uns mit diesem Gesetz gleichzeitig unserer hart erkämpften Möglichkeiten zur Selbstbestimmung beraubt, wollen wir uns nicht länger verschaukeln lassen", betont Arnade. Sie gehe davon aus, dass Andrea Nahles "weder uns noch sich selbst oder der SPD einen Gefallen damit tut, in Sonntagsreden Menschenrechte und Inklusion zu beschwören und gleichzeitig mit neuen Gesetzen unsere Lebensmöglichkeiten zu beschränken".
Link zum Tagesspiegel-Artikel: https://causa.tagesspiegel.de/schlaflos-am-reichstagsufer-und-deshalb-haben-wir-uns-angekettet-frau-nahles.html
BTHG: Besser kein Gesetz als dieses!
Der vorgelegte Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) verdient nach Ansicht der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) diesen Namen nicht, sondern sollte besser Bundesspargesetz genannt werden. Denn nach den derzeitigen Normierungen gehe es laut ISL nicht darum, die Teilhabe behinderter Menschen zu optimieren oder gar ihre Menschenrechte zu realisieren, sondern hinter den wohlklingenden Worten verbergen sich Leistungskürzungen und Zugangsbeschränkungen auf dem Rücken behinderter Menschen und ihrer Angehörigen. Die ISL führt als Begründung für ihre Position vier K.O.-Kriterien auf, die in dem vorliegenden Entwurf enthalten sind:
Keine freie Wahl von Wohnort- und Wohnform
Einschränkung des berechtigten Personenkreises
Verschlechterungen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung
Regionalisierung statt bundeseinheitlicher Standards
"Angesichts der faktischen Verschlechterungen, die mit diesem Gesetz zu erwarten sind, plädieren wir dafür, einige der geplanten Verbesserungen durch eine Novellierung des SGB IX zu realisieren und sich ansonsten von dem Projekt zu verabschieden", zitiert ISL-Geschäftsführerin Dr. Sigrid Arnade die Stellungnahme für die Verbändeanhörung am 24. Mai in Berlin.
We have a dream: Einen menschenrechtsbasierten Aktionsplan!
Anlässlich der Verbändeanhörung am 20. Mai begrüßt die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) in einer Stellungnahme zwar die Tatsache der Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans (NAP), der auch einige sinnvolle Maßnahmen enthalte. Insgesamt unterscheide sich der NAP 2.0 nach Ansicht der ISL aber in seiner unzureichenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wenig vom ersten NAP: "Während wir in der Vergangenheit oft angenommen haben, der gute Wille sei zwar vorhanden, die mangelhafte Umsetzung der UN-BRK beruhe jedoch auf Verständnislücken, verfestigt sich angesichts des NAP 2.0 in Zusammenschau mit der Novellierung des BGG und dem Referentenentwurf des BTHG der Eindruck, dass der Bundesregierung die Vereinten Nationen und ihre Empfehlungen im Prinzip egal sind, sie unbeeindruckt weiter gegenteilige Politik verfolgt und man lediglich bemüht ist, einen guten Eindruck zu hinterlassen", fasst ISL-Geschäftsführerin Sigrid Arnade die Position des Verbandes zusammen.
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WIR TRAUERN
Am Tag nach der Abstimmung des Deutschen Bundestages für ein reformiertes Bundesbehindertengleichstellungsgesetz ohne die Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit hat das NETZWERK ARTIKEL 3 eine Traueranzeige zu dieser vertanen Chance der Abgeordneten der CDU/CSU und SPD Bundestagsfraktion veröffentlicht.
"Trotz vielfältiger Gespräch, Appelle und konkreter Formulierungsvorschläge für die Gesetzesreform, trotz Pfeifaktionen vor den Parteizentralen der CDU und SPD, trotz einer 22stündigen Ankettaktion von Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen, haben die Abgeordneten der CDU/CSU und SPD wider besseren Wissens so abgestimmt. Und das trotz konkreter und machbare Alternativen und namentlicher Abstimmung. Das hat uns zu einer Traueranzeige veranlasst, die hoffentlich von vielen Verbänden und Internetangeboten aufgenommen und verbreitet werden", erklärte Dr. Sigrid Arnade vom NETZWERK ARTIKEL 3 heute in Berlin.
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Respekt! - Schlaflos an der Spree

Diejenigen, die in der Zeit von Mittwoch, 11. Mai 17:15 Uhr, bis Donnerstag, 12. Mai 15:15 Uhr, ans Spreeufer in der Nähe des Reichstags gekommen waren und miterlebten, wie Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen bei ihrer Ankettaktion gegen Barrieren und schlechte Gesetze ausharrten, hatten oft nur ein Wort im Munde: "Respekt!". Und genau dieser Respekt gebührt denjenigen, die sich nicht nur mit großem Mut in die Bannmeile zum Protest begeben hatten, sondern zum Teil weit über ihre körperlichen und psychischen Grenzen hinaus gingen, um die Abgeordneten des Bundestages sozusagen in letzter Minute zu überzeugen, dass wir klare Regeln für Barrierefreiheit im privaten Bereich brauchen statt bloßer Appelle und Sonntagsreden.
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Meinungsaustausch im BMAS: Die Sichtweisen gehen weit auseinander
"Es war ein schwieriges Gespräch" bilanzierte Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller aus ihrer Sicht die zweieinhalbstündige Diskussion im Arbeits- und Sozialministerium, die ursprünglich nur für 60 Minuten anberaumt war. Vor dem Hintergrund der Protestaktion am 4. Mai, bei der behinderte Demonstrierende kurzfristig das Ministeriumsfoyer besetzt hatten, machten die behinderten AktivistInnen im Gespräch mit der Staatssekretärin und mit Abteilungsleiter Dr. Rolf Schmachtenberg am 10. Mai sehr deutlich, dass mit dem geplanten Bundesteilhabegesetz (BTHG) Rückschritte in der Behindertenpolitik und Leistungseinschränkungen drohten.
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Behindertenverbände als Geiseln des BMAS?
ein Kommentar von Dr. Sigrid Arnade
In dem vorgelegten Referentenentwurf des BMAS zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), der vorige Woche veröffentlicht wurde, geht es zwar auch um einige Verbesserungen, aber doch primär um Leistungskürzungen und Leistungsbeschränkungen, auch wenn bei der Zieldefinition vollmundig immer wieder von der UN-Behindertenrechtskonvention gesprochen wird.
Wo bleibt der Aufschrei der im Deutschen Behindertenrat (DBR) zusammenarbeitenden Verbände, frage ich mich seitdem. Kann es sein, dass das Stockholm-Syndrom die Behindertenverbände befallen hat? Zur Erinnerung: Als Stockholm-Syndrom bezeichnet man das Phänomen der Solidarisierung von Geiseln mit ihren Geiselnehmern.
Was hat das mit dem BTHG zu tun? Dazu ein Rückblick: In einem aufwändigen breit angelegten Beteiligungsprozess hatten die DBR-Verbände die Gelegenheit, ihre Positionen detailliert darzulegen. Massen von Papieren galt es durchzuarbeiten, sich in stundenlangen Telefonkonferenzen abzusprechen, tagelang in Gremien die Positionen darzulegen. Die vielschichtigen Themen wurden vom DBR professionell aufbereitet; die Positionspapiere dem BMAS zugeleitet.
Aber statt mit einem neuen Gesetz Teilhabechancen zu erweitern, ist der Entwurf für ein reines Spargesetz vorgelegt worden, das nicht nur den Kreis der Leistungsberechtigten eingeschränkt, sondern auch bei den Leistungen selbst kürzen will. Qualität oder gar Menschenrechte spielen dabei keine Rolle. Minimale Verbesserungen muss man mit der Lupe suchen.
Wäre dieser Entwurf ohne den breiten Beteiligungsprozess vorgelegt worden, dann wären sich die Behindertenverbände in ihrer strikten Ablehnung einig, da bin ich mir sicher. Aber statt sich über das Ablenkungsmanöver der Beteiligung zu ärgern und die für nichts und wieder nichts vergeudete Lebenszeit zu bedauern, halten die meisten Verbände trotz der vorgelegten ernüchternden Fakten daran fest, für ein gutes Teilhabegesetz eintreten zu wollen frei nach dem Motto „da haben wir soviel Arbeit reingesteckt, das kann doch nicht umsonst gewesen sein.“
Hat das BMAS uns mit dem Beteiligungsprozess in Geiselhaft genommen, so dass wir uns mit der Regierung mehr solidarisieren als mit unseren Mitgliedern? Kolleginnen und Kollegen, vergesst die vergangenen zwei Jahre und werft einen unvoreingenommenen Blick auf den Entwurf. Dann kann unsere Botschaft an das BMAS doch nur lauten: „So nicht, nicht mit uns! Nehmt die wenigen vorgesehenen Verbesserungen und realisiert sie durch eine Änderung des SGB IX. Tretet den Rest in die Tonne!“
BTHG-Entwurf: Sehr ernüchternd!
Am 26. April wurde der lange erwartete Referentenentwurf für das Bundesteilhabegesetz vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales an die Verbände zur Anhörung versandt. Das inklusive Begründung 369 Seiten starke Dokument ist damit der offizielle Vorschlag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für das Bundesteilhabegesetz, der am 24. Mai zur ersten Anhörung kommt, bevor der Entwurf dann vom Bundeskabinett im Juni oder Juli beschlossen werden kann. Die erste Einschätzung von ISL-Geschäfstführerin Dr. Sigrid Arnade lautet:
"Mit diesem Entwurf ist es nicht gelungen, das im Koalitionsvertrag formulierte Ziel - Herausführung behinderter Menschen aus dem Fürsorgesystem und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht - zu erreichen. Es hat kein Systemwechsel stattgefunden. Das Sozialhilfedenken ist nach wie vor maßgebend. Die Bestimmungen der bisherigen Eingliederungshilfe sind weitgehend kopiert und ins SGB IX eingefügt worden. Nach wie vor müssen die Betroffenen die behinderungsbedingt notwendigen Hilfen aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen zahlen, solange sie es können. Eine Herauslösung aus dem Fürsorgesystem hätte bedeutet, dass die Hilfen als Nachteilsausgleiche ohne Eigenbeteiligung erbracht werden oder maximal übergangsweise ein geringer Festbetrag einbehalten wird. Die Vermögensgrenzen sind zwar angehoben worden, aber bei der Einkommensanrechnung wird es zu Verschiebungen, aber kaum zu spürbaren Entlastungen kommen. Die vorgesehenen Bestimmungen stehen im Gegensatz zu den Festlegungen in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN_BRK) und zu den Empfehlungen, die der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen nach der Staatenprüfung Deutschlands vor einem Jahr formuliert hat.
Gar nicht hinnehmbar ist die massive Einschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises (§ 99 Entwurf): Demnach sind nur Menschen leistungsberechtigt, die in fünf (von neun) Lebensbereichen ohne Unterstützung nicht teilhaben können oder in drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung nicht teilhaben können. Das bedeutet, dass nicht nach dem tatsächlichen Bedarf geschaut wird, sondern nach bürokratischen Kriterien. Ein sehbehinderter Student beispielsweise, der "nur" Unterstützung bei der Kommunikation braucht, fiele raus.
Ein wichtiges Anliegen behinderter Menschen, das Menschenrecht auf freie Wahl von Wohnort und Wohnform (Art. 19 UN-BRK), ist nicht realisiert worden. Vielmehr ist diesbezüglich alles beim Alten geblieben. Immerhin konnten die Verschlechterungen, die sich im Entwurf vom Dezember 2015 abzeichneten, verhindert werden.
Beim Budget für Arbeit (§ 61 Entwurf), dessen Einführung im Prinzip zu begrüßen ist, werden in Absatz 2 den Ländern Abweichungsmöglichkeiten eingeräumt, was bundeseinheitlichen Regelungen zuwider läuft. Das ist zu kritisieren.
Die Einführung einer unabhängigen Beratung (§ 32 Entwurf) entspricht einer Forderung der Behindertenverbände. Die Ausgestaltung bleibt vage und soll in einer Förderrichtlinie konkretisiert werden. Zu kritisieren ist, dass die Förderung durch den Bund bis Ende 2022 befristet ist.
Die Leistungsform der Assistenz, die für ein selbstbestimmtes Leben unabdingbar und auch in der UN-BRK normiert ist, hat zwar in § 78 des Entwurfs Eingang gefunden, ist aber überhaupt nicht verstanden bzw. mit falschen Inhalten gefüllt und dadurch ziemlich entstellt worden.
Die Bestimmungen zum Leistungsort (§ 31 des Entwurfs) verhindern weiterhin, dass behinderte Menschen in der Entwicklungszusammenarbeit tätig werden können, weil Leistungen höchstens noch im grenznahen Ausland erbracht werden. Derzeit gibt es den Fall eines jungen gehörlosen Mannes, der einen Kindergarten für gehörlose Kinder in Pjöngjang aufbaut und dem mit dieser Bestimmung die Finanzierung von Arbeitsassistenz verweigert wird.
Es gibt auch Positives: Die Mitwirkungsrechte der Werkstatträte werden erweitert und Frauenbeauftragte werden in Werkstätten eingeführt. Mein erstes Resümee nach der Lektüre: sehr ernüchternd."