Politik kommt nicht an der Basis an

Jürgen SchmidtWasungen (kobinet) Jürgen Schmidt engagiert sich auf vielfältige Weise regional und überregional in der Behindertenpolitik des Landes Thüringen. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit dem engagierten Rollstuhlnutzer, der an einer Empowerment Schulung der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) teilgenommen hat, über seine Erfahrungen und Eindrücke mit der Behindertenpolitik seit dem Regierungswechsel vor über einem halben Jahr in Thüringen.

kobinet-nachrichten: Die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen ist mittlerweile seit über einem halben Jahr im Amt. Welche Veränderungen stellen Sie als jemand, der sich in einem Behindertenverband, vor Ort im Kreisparlament und im Behindertenbeirat engagieren fest?

Jürgen Schmidt: Leider muss ich für mich feststellen, dass sich in meiner Arbeit im Behindertenverband, als auch im Behindertenbeirat und im Kreistag keine spürbaren Veränderungen ergeben haben. Damit möchte ich aber nicht sagen, dass es keine Bemühungen seitens der neuen Landesregierung diesbezüglich geben mag. Sie dringen aber nicht bis an die Basis vor. Einerseits liegt das an der fehlenden Vernetzung und Transparenz, andererseits wird dem Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention - also der Bewusstseinsbildung - noch zu wenig Bedeutung beigemessen. Ich vermisse die geforderten wirksamen Öffentlichkeitskampagnen, die Förderung einer respektvollen Einstellung auf allen Ebenen des Bildungssystems, die medienwirksame Berichterstattung über die Situation von behinderten Menschen und entsprechende Schulungsprogramme zur Schärfung des Bewusstseins. Randnotizen in der Presse über die steigende Arbeitslosigkeit von behinderten Menschen sind da bei Weitem nicht ausreichend.

kobinet-nachrichten: Mit dem Regierungswechsel in Thüringen haben die VertreterInnen behinderter Menschen ja viele Hoffnungen verbunden. Was wünschen Sie sich von der Landesregierung in Sachen Behindertenpolitik?

Jürgen Schmidt: Wie ich bereits erwähnte, spielen der fehlende Informationsfluss und die mangelnde Vernetzung eine große Rolle. Die VertreterInnen behinderter Menschen setzten Ihre Hoffnung auf die versprochene Bürgernähe, die Transparenz bei der Umsetzung der politischen Ziele, auf ein besseres Mitspracherecht und mehr Selbstbestimmung. Leider ist davon bislang nicht viel zu spüren. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern spiegelt auch die Meinung der VertreterInnen anderer Verbände und Organisationen wieder, mit denen ich in Verbindung stehe.

kobinet-nachrichten: Bisher ist ja immer noch nicht klar, wer die Nachfolge von Dr. Paul Brockhausen antritt, der Ende Juli als Landesbehindertenbeauftragter von Thüringen in den Ruhestand gegangen ist. Wie beurteilen Sie die Diskussion um dessen Nachfolge?

Jürgen Schmidt: Die Tatsache, dass die Nachfolge von Dr. Paul Brockhausen zur Zeit noch nicht geklärt ist, erschwert natürlich die Arbeit der VertreterInnen von behinderten Menschen. Beim Landesbehindertenbeauftragten (bzw. der Landesbehindertenbeauftragten) fließen die Fäden zusammen. Er (bzw. sie) ist das Bindeglied zwischen der Basis und der Landesregierung. Da diese Lücke noch nicht geschlossen ist, kommt es zu dem bereits erwähnten Informationsstau bzw. der fehlenden Vernetzung. Wir konnten in den sozialen Netzwerken als auch in den öffentlichen Medien die Diskussion um die Nachfolge von Dr. Paul Brockhausen verfolgen, die mitunter sehr kontrovers verlief. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich mir Maik Nothnagel, der bei der Parteil DIE LINKE schon lange als inklusionspolitischer Sprecher fungiert, als zukünftigen Landesbehindertenbeauftragten für Thüringen vorstellen könnte. Er ist behindertenpolitisch schon seit vielen Jahren engagiert, daher fachlich kompetent, und verfügt über die nötigen Kontakte. Die Funktion des (bzw. der) Landesbehindertenbeauftragten sollte an der Kompetenz und nicht an Fragen der Parteizugehörigkeit festgemacht werden. Ich weiß, dass viele behinderte Menschen aus Thüringen und über die Landesgrenze hinaus sehr enttäuscht und aufgebracht waren, als sie erfuhren, dass die Landesregierung Maik Nothnagel nicht berufen hat. Ich persönlich kann keine Auskunft über den vorgesehenen Landesbehindertenbeauftragen geben, da er mir weder durch Publikationen noch durch öffentlichkeitswirksame Auftritte in Sachen UN-Behindertenrechtskonvention und deren Umsetzung aufgefallen ist. Ich bin mir aber sicher, dass Maik Nothnagel ein Gewinn für die Behindertenpolitik in Thüringen gewesen wäre und Änderungen bewirkt hätte. Ich sehe daher der behindertenpolitischen Zukunft in Thüringen mit gemischten Gefühlen entgegen.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie eine Botschaft an die Sozialministerin und den Ministerpräsidenten in Sachen Behindertenpolitik schicken könnten, welche wäre dies?

Jürgen Schmidt: Als Inklusionsbotschafter, eines von der Aktion Mensch geförderten und von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) durchgeführten Projektes, fallen mir da einige Botschaften ein: Es ist höchste Zeit, die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und mit Leben zu erfüllen. Sie müssen im Mittelpunkt der Bemühungen stehen. Wir haben bereits zu viel Zeit verloren und Taten sind gefragt. Seit vielen Jahren fordern wir die Novellierung des Thüringer Gleichstellungsgesetzes. Es muss der UN-Behindertenrechtskonvention angepasst und aktualisiert werden. Ebenso hoffen wir auf ein "Budget für Arbeit", um der steigenden Arbeitslosigkeit von behinderten Menschen entgegenzuwirken und die Türen für behinderte Menschen aus Werkstätten zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu öffnen. Nachteilsausgleiche müssen allen behinderten Menschen zu Gute kommen - unabhängig von ihrer Behinderung. Dafür brauchen wir ein einkommens- und vermögensunabhängiges Bundesteilhabegesetz. Es kann nicht sein, dass Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, in Armut gedrängt werden und sich ständig rechtfertigen müssen. Das ist gegen die Menschenwürde und verstößt gegen die Menschenrechte. Ebenso muss die Selbstbestimmung gefördert werden. Das erfordert eine Abkehr von der institutionellen Form und eine Stärkung der Beratung von behinderten Menschen. Dafür brauchen wir dringend die benötigten Beratungsstellen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns vom medizinisch defizitären Menschenbild abwenden und den behinderten Menschen als eine Persönlichkeit sehen, die auch Stärken, Potenziale und Reserven aufweist.

Meine Hauptbotschaft wäre daher: "Bitte handeln Sie! Jetzt!"

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.