Eindrücke zum Bundesteilhabegesetz

Berlin (kobinet) Maria Henschel setzt sich als Inklusionsbotschafterin dafür ein, dass die Rechte behinderter Menschen gestärkt werden. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit der angehenden Juristin u.a. über ihre Eindrücke zum am 12. Mai vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Bundesbehindertengleichstellungsgesetz.

kobinet-nachrichten: Sie haben die Proteste für die Aufnahme der Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zu angemessenen Vorkehrungen zur Barrierefreiheit und die damit verbundene Abstimmung im Deutschen Bundestag verfolgt. Welche Eindrücke haben Sie dabei als angehende Juristin gewonnen?

Maria Henschel: Generell ist erst einmal zu schauen, was im Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) konkret novelliert wurde, also welche Unterschiede es zwischen der Fassung von 2002 und der aktuellen, vom 12.05.2016 gibt. Das BBG wurde zum Teil ergänzt, durch das Einfügen neuer Absätze (z.B. § 1 BGG) und neuer Abschnitte wie dem Einrichten einer Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sowie einer Schlichtungsstelle. Ansonsten fanden überwiegend "kosmetische Änderungen" am Gesetz statt. Aus den Formulierungen wie "behinderte Menschen / Frauen" wurde "Menschen / Frauen mit Behinderungen", um dem Wortlaut der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gerecht zu werden.

Inhaltlich gab es keine gravierenden Änderungen. Der § 1 BGG wurde um die Absätze 2 bis 4 ergänzt. Nach § 1 Absatz 3 Satz  2 bis 4 BGG (vgl. Gesetzesentwurf zum BGG vom 09.03.2016, Bundestag-Drucksache (BT-DS)18/7824, S. 10 ff), werden die Behörden verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass Einrichtungen, an denen ein öffentlicher Träger beteiligt ist, auf eine Barrierefreiheit in angemessener Weise hinwirken. Eine Verpflichtung für private Dienstleistungsanbieter findet sich jedoch nicht im neuen Gesetz, auch nicht in § 4 oder § 5 BGG, die sich mit dem Begriff der Barrierefreiheit befassen. Nach § 4 werden zwar verschiedene Lebensbereiche aufgezählt, jedoch ergibt sich aus dem Begriff der Barrierefreiheit in § 4 weder eine Berechtigung noch eine Verpflichtung für eine Partei.

Nach § 5 BGG, in der die Zielvereinbarung aufgeführt wird, ergibt sich nach wie vor keine Verpflichtung zur Schaffung von Barrierefreiheit. Es wird ein Verhandlungszwang zwischen den Unternehmen bzw. Unternehmensverbänden und den anerkannten Verbänden für Menschen mit Behinderungen statuiert. Der Ausgang solcher Verhandlungen ist den Parteien überlassen und für die Verbände auf Seiten der Menschen mit Behinderung meist sehr zermürbend wie ernüchternd.

Aus dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BGG vom 09.03.2016 (BT-DS 18/7824) ergibt sich zwar, dass es im Kern um eine Konkretisierung bzw. die Umsetzung der UN-BRK geht, jedoch ergibt sich eine tatsächliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit (nicht nur im baurechtlichen Sinne, sondern auch auf Kommunikationsebene) nur für die öffentlich–rechtlichen Träger, eben nicht für private Dienstleister. Gerade dagegen richtete sich der Protest der Interessenvertretung Selbstbestimmtes Leben (ISL) und anderer Organisationen bzw. von Menschen mit Behinderung.

Auch die relativ drastische Aktion am Reichstagufer vom 11.05.2016 verhallte letztlich ungehört, obwohl es in der Drucksache zum BGG auf S. 45 u.a. heißt, dass die "Leitidee der Bundesregierung die inklusive Gesellschaft (ist)." In dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (18. Legislaturperiode), mit dem Titel "Deutschlands Zukunft gestalten" ist zu lesen, dass "Menschen mit Behinderungen (...) Expertinnen und Experten in eigener Sache (sind), ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen will die Bundesregierung besonders berücksichtigen – nach dem Motto 'Nichts über uns, ohne uns'“ Dieses Motto wurde größtenteils ignoriert bzw. maximal formell berücksichtigt, was am verabschiedeten BGG zu sehen ist.

kobinet-nachrichten: Glauben Sie, dass die nun verabschiedeten Regelungen zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts viel für behinderte Menschen verändern wird?

Maria Henschel: Es mag sicherlich nicht negativ zu bewerten sein, dass nach dem BGG eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit sowie eine Schlichtungsstelle entstehen sollen. Ob sich daraus dann ein konkreter Nutzen für die Menschen mit Behinderung ergibt, wird sich zeigen. Der Ausbau von Leichter Sprache bei Behörden u.ä., welche die Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen berücksichtigt, stellt einen wichtigen Punkt dar, der sich aus Art. 21 UN-BRK ergibt, jedoch nicht ausreichend Zugang zum BGG von 2002 erfuhr. Insofern bestand auch nach Ansicht der Bundesregierung Regelungsbedarf auf diesem Gebiet, vgl. dazu S. 38, BT-DS 18/7824. Generell wurde aber am eigentlichen Ziel vorbei geregelt, das Leben der Menschen – auch von Menschen mit Behinderungen – findet nicht in irgendwelchen Behörden statt, sondern an Orten des öffentlichen Lebens. Insofern hat sich an der Benachteiligung nichts verändert. Dadurch werden Menschen mit Behinderung genauso separiert und ausgeschlossen vom alltäglichen – "normalen" Leben wie zuvor auch. Da hilft dann auch der Gang der Abgeordneten zu den Aktivisten am Reichstagufer nichts, wenn solche Akte letztlich nur Makulatur sind.

Es ist im Hinblick auf die bauliche Barrierefreiheit auch nicht verständlich, wieso es keine Regelungen, die über die Verpflichtung der öffentlichen Träger hinausgehen, gibt. Dabei ist ein Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 27. September 2004, AZ.3 S 1719/03 interessant, da es dort um einen Fitnessstudio-Betreiber ging, der die Auflage erhielt in seinem Fitnessstudio einen Aufzug einzubauen. Der § 39 BauO BW hat bezeichnenderweise als Überschrift "Barrierefreie Anlagen" und führt unterschiedliche Anlagen in § 39 Abs.2  auf, wie Museen und öffentliche Bibliotheken, Sport-, Spiel- und Erholungsanlagen, Schwimmbäder, Camping- und Zeltplätze, Jugend- und Freizeitstätten, Bildungs- und Ausbildungsstätten aller Art, Bürogebäude, Verkaufsstätten und Ladenpassagen, Beherbergungsbetriebe, Gaststätten, Praxen der Heilberufe und der Heilhilfsberufe. Es wird also eine Vielzahl an Einrichtungen genannt, die jenseits der Behörden bestehen, die, sofern ein solcher Bau neu genehmigt wird, barrierefrei sein müssen. Das Gericht führte noch aus, dass nach § 39 Abs. 2 Nr.6 LBO "...Sport-, Spiel-und Erholungsanlagen sowie Schwimmbäder barrierefrei errichtet werden (müssen), ohne dass zwischen öffentlichen und privaten Anlagen unterschieden werde" (Rn.8). Eine vergleichbare Regelung findet sich in der Bauordnung für das Land Berlin nicht, da die Bauordnungen eben Sache der jeweiligen Länder sind. Vielmehr gibt es nur eine sehr abstrakte Regelung im § 39 Abs.4 S. 4 sowie § 51 BauO Bln, der viel Spielraum für den Bauherren lässt.

Vor diesem Hintergrund wäre es ein Beitrag gewesen, in baurechtlicher Hinsicht, eine ähnliche Formulierung ins BGG einzubringen und sich eben nicht nur auf Gebäude zu beziehen, die der Verwaltung, etc. dienen, da sich das Leben der Menschen mit Behinderungen, wie auch auf dem Protesttag eindringlich gesagt wurde, eben nicht in Behörden, sondern in den o.g. Stätten abspielt. Stattdessen findet sich in der BT-Drucksache an verschiedenen Stellen (z.B. S. 3, S. 25, S.50)  bzgl. der Frage des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, immer der Vermerk, dass der Wirtschaft keine zusätzlichen Kosten entstehen würden. Ein solcher Vermerk zeigt bereits die Richtung auf und welche Interessen letztlich vertreten werden. Jedoch ist nicht nur die Barrierefreiheit eines Gebäudes entscheidend, vor allem für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, sondern auch, dass Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen sich eben in ihrer Umwelt zurechtfinden können. Menschen mit Sehbeeinträchtigungen benötigen für sie erfassbare Orientierungsmöglichkeiten. Dazu heißt es im Gesetzesentwurf zum BGG auf S.34 unter Nr. 6, dass das Klarstellungsmerkmal der Auffindbarkeit in §§ 4,5 BGG aufgenommen wurde, jedenfalls für Gebäude der Verwaltung u.ä., um so einen Einklang mit Art. 9  UN-BRK herzustellen, wonach Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen die Möglichkeit bekommen müssen, Gebäude etc. nutzen zu können. Dies ist als Ansatz lobenswert, es besteht jedoch nach wie vor nicht nur in baurechtlicher Hinsicht Nachholungsbedarf auf den privaten Wirtschaftssektor, sondern auch in Bezug auf das sog. "Inklusives Design" auch "Universelles Design" oder "Design für Alle" genannt. Dies sind  Produktgestaltungsentwürfe oder Verpackungsentwürfe, welche sich an allen potentiellen Nutzern orientieren, also auch an Menschen mit Seheinschränkungen. Denn für Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen ist nicht nur wichtig, dass sie bestimmte Gebäude etc finden, sondern, dass sie auch wissen, welche Produkte sie – Menschen mit Behinderungen sind schließlich auch Konsumenten – potentiell erwerben. Dies findet auch in Art. 2 und 4 der UN-BRK seinen Ausdruck.

Es erscheint daher sonderbar, dass einerseits Kosten für die Wirtschaft bzgl. der Barrierefreiheit unbedingt zu vermeiden sind, auf der anderen Seite jedoch versäumt wird, die Kaufkraft von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen. Durch barrierefreie Gestaltung von Waren sowie von Dienstleistungen wären diese attraktiver für Menschen mit Behinderungen und würden somit zum Wachstum der Wirtschaft beitragen. Daher wäre eine Verpflichtung der Unternehmen zur Verwendung der Brailleschrift auf deren Verpackungen ebenso wünschenswert gewesen (bisher gibt es eine solche Verpflichtung nur bzgl. Arzneimittelverpackungen nach dem Arzneimittelgesetz (AMG)). Bisher existiert eine solche Herangehensweise nur auf freiwilliger Basis seitens der Privatwirtschaft (wahrgenommen z.B. durch Milford, jedoch bisher nur in Österreich, interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass es in Österreich – in etwa zeitgleich zum BGG, eine Novellierung des dortigen Bundesgleichstellungsgsetz (BGStG) stattfand, welches im seinem Kern dem BGG sehr ähnlich ist).

Eine Petition aus dem Jahr 2012, die eine solche "Kennzeichnungsverpflichtung“ der Wirtschaft anstrebte, scheiterte, vgl. dazu: Petition 37706 – Verbraucherschutz- Kennzeichnung von Lebensmitteln auch in Brailleschrift, vom 09.11.2012. Es zeigt sich daher, dass die Vorgaben der UN-BRK sowie den Vorschlägen der Menschen mit Behinderungen keine tatsächliche Rechnung getragen wurden. Jedenfalls, was den alltäglichen Lebensbereich anbelangt. Die Behördengänge etc., sollen vereinfacht werden, was natürlich schon ein wichtiger Schritt ist, aber an der Situation der alltäglichen Probleme von Rollstuhlfahrern, Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen usw. hat sich mit dem BGG nichts verändert. Auch die 10 Gebote, die Dr. Sigrid Arnade von der ISL anlässlich des Pfingstfestes zum BGG bei der Aktion am Reichstagufer vorgetragen hat, wurden ignoriert. Dies zeigt, wie die Einbindung von Menschen mit Behinderungen, die über Gesetze, die sie unmittelbar betreffen, mitentscheiden wollen, praktisch aussieht.

kobinet-nachrichten: Welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus auf das nun anstehende Bundesteilhabegesetz?

Maria Henschel: Ich fürchte, es wird einen ähnlichen Ausgang wie beim BGG nehmen. Das FbJJ (Forum behinderter Juristinnen und Juristen) hat bereits wiederholt Kritik am Entwurf zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) geübt und auch auf der Internetplattform "nichtmeingesetz.de" wurden schon die "10 größten Mängel" des Entwurfs zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) herausgearbeitet. Damit steht das BTHG unter keinem guten Stern für die, denen es eigentlich das Leben erleichtern soll, obwohl das FbJJ zu Rate gezogen wurde. Die Streitthemen sind besonders das "Recht auf Sparen", womit auch die Problematik des sogenannten "Behindertentestaments" erfasst wird und die finanzielle Einbeziehung eines nicht behinderten Ehepartners. Ebenso brisant ist die Bedeutung der Kommunikationsfähigkeit mit Hilfe einer Vertrauensperson. Sofern es um die Verständigung zwischen Bürger und Behörde geht, wird dies vom BTHG als notwendiger Fall der Kommunikation angesehen und die Verständigung mittels Vertrauensperson wird als Assistenzleistung anerkannt. Sofern ein Mensch mit Sprachbeeinträchtigung außerhalb der Behördenwelt mit der Umwelt kommunizieren möchte, wird diese Fähigkeit nicht als existenzieller Bestandteil für soziale Interaktionen gewertet, obwohl dies eine inklusive Gesellschaft fördern würde.

Das BTHG sieht auch im Bereich der Teilhabe der Menschen mit Behinderungen auf dem 1. Arbeitsmarkt, keine Verbesserung vor, wobei hier schon die Diskussion um den Mindestlohn in Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfmB) eine eindeutige Richtung aufgezeigt hat. Leider ist damit eher ein pessimistischer Blick auf das BTHG angebracht, was aber niemanden entmutigen sollte, da es letztlich zeigt, dass wir Menschen mit Behinderungen weiter für unsere Rechte streiten müssen, denn es ist nach wie vor ein langwieriger Prozess.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.