Wenn die "me-too"-Debatte umschlägt
Halle (kobinet) Medial überpräsente Themen drohen nach Ansicht von Jennifer Sonntag häufig zu kippen, wie bei Songs, die man einfach zu oft im Radio gehört hat. Im Falle der "me-too"-Debatte ist der Medienschauende nach Ansicht der Inklusionsbotschafterin inzwischen so übervoll, dass die Sensibilität für die eigentlichen Opfer verloren geht. Jennifer Sonntag möchte sich deshalb für die Frauen stark machen, die nicht geeignet sind für den Medienhype und keine Lobby haben.
Kommentar von Jennifer Sonntag
Seit vielen Jahren setze ich mich in verschiedenen Projekten für die selbstbestimmt gelebte Sexualität und Sinnlichkeit von Menschen, insbesondere Frauen, mit Behinderungen ein. Frauen mit Behinderungen sind überdurchschnittlich häufig von sexuellen Übergriffen betroffen oder bedroht, seriöse Erhebungen sprechen sogar von jeder zweiten bis dritten. Mir sind die Notlagen, in die Frauen mit Behinderungen geraten können, sehr bewusst, aus eigener Erfahrung und aufgrund der Erfahrungsberichte der blinden und hochgradig sehbehinderten Frauen, die ich sozialpädagogisch begleitete. Die Arbeit am inneren Spiegelbild, die Selbststärkung und Selbstbehauptung von Frauen mit Behinderungen sind mir sehr wichtig und wesentliche Aspekte meiner fachlichen Auseinandersetzungen.
Auch in meinen eher unkonventionellen Literatur- und Kunstprojekten entschloss ich mich dazu, die Flucht nach vorn anzutreten und mich und meine Mitautorinnen nicht in der Opferrolle zu zeigen. Oft haben meine Protagonistinnen und auch ich selbst den Satz gehört: "Wenn du als Blinde Dekolleté zeigst oder einen kurzen Rock trägst, musst du dich nicht wundern, wenn dir was passiert!“ Das sehe ich anders! Ich möchte mich nicht in Sack und Asche hüllen und dennoch keine Einladung für Respektlosigkeit oder Grenzüberschreitung sein. Nichts über uns ohne uns, das gilt auch hier!
Sowohl im kreativen als auch im fachlichen Herangehen gebe ich mich bewusst als sexuell selbstbestimmte Frau mit Behinderung und möchte zeigen, dass die Blindheit der Selbstbehauptung keinesfalls das Licht ausschaltet. Andere blinde Frauen und auch Frauen mit anderen Behinderungen finden vielfältige andere Ausdrucksformen und manche möchten auch gar kein Thema daraus machen. Auch das ist vollkommen in Ordnung. Es gibt verschiedene Gründe, warum ich ein Thema daraus machen möchte. Während der Recherchen zu meinen Büchern, in denen ich die blinde Weiblichkeit thematisierte, fand ich wenig Material zu diesem "Doppeltabu". Die Informationen zur Sexualaufklärung von Menschen mit Behinderungen sind rar und ausgerechnet uns Betroffene erreichen sie oft nicht barrierefrei. So kann ich selbst mich mit meinem Screen Reader zum Beispiel beim Forum Sexualaufklärung als Blinde nur sehr eingeschränkt in das vorliegende Prospektmaterial einlesen. Dabei interessiert mich sehr, was über uns Menschen mit Behinderungen und unsere Sexualität geschrieben steht. Auf meine Anfrage erhielt ich noch keine Rückmeldung. Ich wünsche mir an dieser Stelle mehr Zielgruppennähe und Kooperationen mit den Betroffenen, die sich in ihrer Vielfalt zeigen, ihre Bedürfnisse äußern und ihre spezifischen Kompetenzen einbringen.
Hinweise zu meinem Wirken
Auf meiner Seite www.blindverstehen.de habe ich mich im Kapitel „Erotikdefinition“ mit ganz unterschiedlichen blinden Frauen zu einem Plausch über Schönheit, Sinnlichkeit und Erotik getroffen. Lesende sind herzlich zu einem Sinneswandel eingeladen.
Mein erotisches Kunst- und Literaturprojekt „Liebe mit Laufmaschen“ stelle ich auf der gleichnamigen Seite www.Liebe-mit-Laufmaschen.de vor. Dort gibt es auch einen kostenlosen Rundgang durch die „Blind-Galerie“, mit erotischen Bildbeschreibungen für blinde Besucher, entwickelt von Franziska Appel. Interessierte erfahren außerdem, wie ich als Blinde mit meinem sehenden Buchpartner Dirk Rotzsch die ausgestellten erotischen Kohlezeichnungen ersinne und anfertige. Auch unser Taschenbuch zum Projekt findet man dort.
Häufig erreichen mich Anfragen zu meinen Publikationen über die blinde Weiblichkeit oder zu meinen erotischen Kurzgeschichten. Die mp3-basierten Hörbücher „Verführung zu einem Blind Date“, „Hinter Aphrodites Augen“ und „Zigaretten danach“ können gern in der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig erfragt werden. Die Printexemplare sind leider vergriffen. Zahlreiche Kapitel sind jedoch kostenlos auf meiner Seite www.blindverstehen.de nachlesbar.
Kontakt Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB), Telefon: 0341 7113-119, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Die wertschätzende Körperbildwahrnehmung von Frauen (und Männern) mit Behinderungen, die selbstbestimmte Auseinandersetzung mit Sinnlichkeit und Sexualität und das positive Ausleben des persönlichen Schönheits- und Erotikempfindens sind mir wichtige Anliegen. Ich freue mich zukünftig auf einen mutigen und offenen Dialog und erfrischende Konzepte.