Jennifer Sonntag fragt: Ist das wirklich mutig?
Halle (kobinet) Auch als blinde Frau betreibt die Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag regelmäßig eine Presseschau. Was die Bilderwelten betrifft, wird sie dabei meist durch ihren sehenden Partner unterstützt. Als hätte sie selbst es nicht kürzlich in einem Beitrag für die kobinet-nachrichten über den absurden Augenbindentrend in seiner Absurdität in Worte gefasst, griff es die Leipziger Volkszeitung (LVZ) vor kurzem nochmals mit einem Screenshot auf: Schauspielerin Sandra Bullock mit verbundenen Augen und dazu die Überschrift: "Ist das Mut?" Dass Mut auch schnell zur Zumutung werden kann, sehen glücklicherweise eine Vielzahl von Publizisten ähnlich wie Jennifer Sonntag.
Beitrag von Jennifer Sonntag
Mit Blindheit spielt man nicht, möchte ich da als Betroffene sagen und dabei nicht als „von gestern" verstanden werden. Auch ich kann mich manch unterhaltsamem YouTube-Phänomen nicht entziehen und hinterfrage auch mich, wenn ich mich manchmal mit merkwürdigen Video-Challenges zum Einschlafen berieseln lasse. Aber darin geht es meist um das Ausmisten von Kleiderschränken und nicht um das Simulieren von Behinderungen. Dieses unangenehme Gefühl, Mitmenschen dabei zu beobachten, wie sie Blindheit als kitzelnden Zeitvertreib feiern, kenne ich nur zu gut aus meinen Führungen durch die „Sensorische Welt", in denen ich Sehenden die Wahrnehmungswelt blinder Menschen mittels abgedunkelter Erfahrungsräume näherbrachte. Nicht selten begegneten mir innerhalb meiner sozialpädagogischen Arbeit auch Gäste, die allein mit dem Wunsch gekommen waren, sich den besonderen Kick zu geben, mal kurz überhaupt nichts sehen zu können. In einem kobinet-Beitrag zum absurden Augenbindentrend hatte ich auf einen Text hingewiesen, den ich innerhalb eines Buchprojektes zu dieser Thematik verfasste. Aufgrund der Aktualität der Debatte möchte ich ihn an dieser Stelle gern als Denkanstoß zur Verfügung stellen. Er ist ausdrücklich nicht als Verherrlichung, sondern als Kritik zu betrachten. Zu explizite Passagen habe ich angepasst, da es hier einzig darum gehen soll, die Simulation von Behinderung im öffentlichen Raum zu diskutieren. Diese können beim wahrlich betroffenen Menschen zu Verletzungen führen und letztlich auch beim Simulanten selbst, wie meine literarisierte Auseinandersetzung im Folgenden zeigen möchte.
Blind Simulation
(Quelle: „Liebe mit Laufmaschen" von Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch, erschienen 2015 bei Periplaneta)
Sie liebte es, die Blinde zu spielen, und es machte sie wahnsinnig an, von einem Mann überwältigt zu werden, den sie nicht sah. Diesen Fetisch ließ sie sich was kosten. Einmal im Monat flog sie nach Leipzig, den geliebten Blindenstock im Gepäck. Ihre rundum geschlossene Sonnenbrille hatte sie zusätzlich mit mehreren Lackschichten übersprüht und von innen mit doppeltem Scherenschnittpapier präpariert, damit auch wirklich kein Licht hindurchdringen konnte.
Im „Quartier L" angekommen, begann sie mit der Verkleidung. Auf ihre „Blind-Simulations" hatte sie sich oft nächtelang bereits in München vorbereitet, alle Glühbirnen in ihrer Wohnung ausgedreht und die Augen diszipliniert geschlossen gehalten. Diese Rituale erzeugten ein vorfreudiges Kribbeln in ihrem Bauch. Es erregte sie, sich ohne optische Kontrolle das Abendbrot zu bereiten und zu erraten, was die Filme im Fernsehen zeigten.
In München konnte sie ihre Neigung jedoch nicht vor der Haustür ausleben. Sie war Anwältin für Immobilienrecht und als beinharte Geschäftsfrau bekannt. Leipzig jedoch wurde zu ihrem Spielplatz. Dort trug sie nicht die gewohnten Nadelstreifenkostüme und den strengen Haarknoten, dort trug sie das brünette Haar offen und geheimnisvoll ins Gesicht gekämmt, die Röcke kurz und die Ausschnitte tief. Oft shoppte sie vor Ort die Outfits für ihre Blind Dates. Erst zurück in München erlaubte sie sich einen Blick auf die Kleider, wenn sie die Spuren vom Wochenende herauswusch.
Die Ungewissheit machte sie in jeder Hinsicht heiß auf die Stadt. Zitternd vor Erregung tastete sie sich orientierungslos über Leipzigs Straßen, stieg in wildfremde Autos ein und drohte auf ihren hohen Hacken so manche Treppe hinabzustürzen. Sie begab sich an zwielichtige Orte, an denen sie sich als leichte Beute fühlen konnte. Mit besonders unselbständigem Gebaren und engagiertem Bitten um Hilfe machte sie sich zuverlässig zum Männermagneten.
Meistens ließ sie sich in irgendeinen Club einladen und stürzte mit einem oder mehreren Kerlen irgendwo ab – immer darauf bedacht, ihre schwarze Brille nicht zu verlieren. Das hätte ihr alles kaputt gemacht. Einmal wäre es fast soweit gewesen, als ein Typ darauf bestand, ihre blinden Augen zu sehen.
Zu ihrer Unterkunft kehrte sie stets mit dem Taxi zurück. Die Kurzwahl der Rufnummer war auf ihrem Handy mit der Fünf belegt. Das war die Taste mit dem fühlbaren Punkt. Nur bei ihrem letzten Trip war das mit dem Taxi schief gegangen. Der Mann, mit dem sie sich getroffen hatte, bot ihr an, sie zu fahren. Er setzte sie jedoch einfach in einer verlassenen Nebenstraße ab, war überraschend schnell verschwunden und mit ihm ihr Handy. Als sie es bemerkte, stieg Wut in ihr auf. Sie vergaß kurz, warum sie überhaupt hier war. Sie, als gestandene Frau, ließ sich doch nicht einfach von einem Dahergelaufenen derart hinters Licht führen. Unter ihrer Brille kochten Tränen hervor.
Sie besann sich und hörte sich um. Da waren Menschen und Schritte in der Ferne. Es wurde gelacht, Absatzschuhe klapperten, wohl eine kleine Partygesellschaft auf dem Heimweg? Der eigene Alkoholpegel machte sie mutig. Sie ging zaghaft der Meute nach. Plötzlich beschlich sie eine Ahnung, ein Gefühl für den Ort, an dem sie sich befand. Vielleicht war es ein Geruch, ein Schall, eine Beschaffenheit am Boden; sie realisierte, dass sie mit den anderen auf dem Weg zu einer Straßenbahnhaltestelle sein musste. Der Ort war ihr nicht mehr ganz so fremd. Immer mehr Geräusche umgaben sie. Sie spürte die Innenstadt wieder, in der sie sich so gern verlor und fühlte sich getragen. Da waren Autos, da waren noch mehr Menschen und da war eine Bahn, mit der sie vielleicht zum „Quartier L" gelangen würde.
Sie beschleunigte ihren Schritt, überquerte unkoordiniert mehrere Straßen. Autoreifen quietschten, es wurde gehupt, aber sie hatte Glück. Sie wähnte sich nun fast am Ziel. Türen öffneten sich, Leute stiegen aus, Leute stiegen ein, Türen schlossen sich wieder. Sie würde es noch schaffen, der Straßenbahnfahrer würde sie sehen, sie würde nur noch zügig auf die richtige Einstiegsseite gelangen müssen. Aber die Bahn setzte sich bereits in Bewegung, als aus der Gegenrichtung eine zweite um die Ecke gebogen kam.
Man barg eine schwer verletzte Frau, eine Anwältin aus München mit einer speziellen Obsession. Wie sich später herausstellte, verlor sie durch die kapitalen Schädigungen am Kopf für immer ihr Augenlicht.