Lenggries (kobinet) Wenn die "Reisegruppe Niemand" am 12. November um 4:27 Uhr am Berliner Hauptbahnhof ihre 3tägige Tour mit dem Regionalverkehr durch alle 16 Landeshauptstädte startet, gehört Markus Ertl sozusagen als "blinder Passagier" zu den fünf Verwegenen, die diese Mammuttour 25 Jahre nach Inkrafttreten des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen im Grundgesetz antreten. Dem Inklusionsbotschafter und Mitstreiter beim Verein UNgehindert ist dabei besonders wichtig, dass das am 15. November 1994 im Grundgesetz verankerte Benachteiligungsverbot gelebt und erweitert wird, wie er im Interview mit den kobinet-nachrichten knapp zwei Wochen vor dem Start der Tour mitteilte.
kobinet-nachrichten: Wofür setzen Sie sich ein und warum machen Sie bei der Bahntour der Reisegruppe Niemand mit?
Markus Ertl: Als Inklusionsbotschafter weiß ich, dass wir die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nur dann erlebbar bekommen, wenn wir immer wieder auf ein Neues die Gesellschaft, allen voran die politisch Verantwortlichen auf den Artikel 3 und die UN-BRK hinweisen. Als behinderter Mensch erlebe ich es leider noch zu oft, dass Barrierefreiheit, Selbstbestimmtheit und Chancengleichheit für uns noch zu wenig alltäglich sind. Wie oft muss ich zum Beispiel noch darum Bitten, dass ich Formulare mit meiner Hilfstechnologie ausfüllen kann, dass ich mir Informationen erst selbst zugänglich machen muss und dass mir aufgrund meiner Behinderung weniger zugetraut wird. Ich werde, viele Menschen mit Behinderungen werden, in vielen Situationen und Lebensbereichen noch zu oft behindert.
Ich wünsche mir eine große Solidarität mit unserer Reisegruppe Niemand und so auch gleichzeitig auch die Aufmerksamkeit auf unsere gemeinsamen Forderungen.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie auf 25 Jahre Grundgesetzergänzung durch den Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" blicken, was fällt Ihnen dazu ein?
Markus Ertl: Es ist ein schöner Satz, nur ein wenig zu kurz geraten. Auch wenn sich der Satz wunderbar liest, so besagt er nur, dass KEINER uns NIEMAND benachteiligen darf. Eine sehr passive Sache. Es wird hier nur gesagt, was KEINER zu unterlassen hat. Es wäre doch viel besser, dem KEINER zu sagen, was er zu tun hat. Stellen wir auch gerne die Frage, wer denn dieser KEINER ist. KEINER ist der Mensch neben uns, er ist der Staat mit seiner Gewaltenteilung, es sind die Gesetze, die Gesellschaftsstrukturen und die alten Denkmuster in den Köpfen. Es ist unser Sozial-System und es sind unsere Arbeitgeber. Auch NIEMAND ist ein KEINER. Wir alle sind KEINER. Und wer, außer dem Deutschen Grundgesetz kann uns besser sagen, was wir, die KEINER in Deutschland, zu tun haben?
Deshalb muss die 25 Jahre alte Ergänzung um den wichtigen Satz verlängert werden: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichstellung von behinderten Menschen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." So fordert es Rolf Allerdissen, 1. Vorsitzender von Ungehindert in seiner Petition an den Bundestag und den Bundesrat. Dies ist auch gleichzeitig eine zentrale Forderung der Reisegruppe Niemand. Denn das wäre nur konsequent, denn bereits mit der Ratifizierung der Convention on the rights for people with disabilities (CRPD) oder auf deutsch, des Übereinkommens über die Rechte für Menschen mit Behinderung (UN-BRK) hat sich Deutschland als Vertragsstaat verpflichtet, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundrechte für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern; (Artikel 4 Absatz 1 der UN-BRK). Dies ist somit seit über 10 Jahren gültiges Recht in Deutschland.
kobinet-nachrichten: Was fürchten Sie an dieser Mammuttour über 76 Stunden und 358 Zwischenhalte mit 29 Umstiegen mit Regionalzügen am meisten, bzw. worauf freuen Sie sich?
Markus Ertl: Ich freue mich auf die Begegnungen mit vielen Mitreisenden, die fest eingeplanten und auch auf die zufälligen. Ich freue mich, viele Forderungen an den Bundespräsidenten nach Berlin tragen zu dürfen. Schmuddelwetter würde ich fürchten. Da dies womöglich Unterstützer von der Tour oder von den Bahnhöfen abhalten könnte. Verspätungen, wenn diese nicht mehr mit alternativen Routen reinzufahren sind, fürchte ich auch ein bisschen. Da hoffe ich aber auf die Verkehrsunternehmen. Und ich freue mich, am 15. November, wenn alles gut geklappt hat, meine Familie wieder fest in die Arme zu schließen.